Die Totengräberin - Roman
Hochhaus zu springen.
Sie spürte, dass Richard von Tag zu Tag mürrischer wurde, aber noch sagte er nichts, noch stellte er ihr kein Ultimatum, weil er die Krankheit seiner Frau für einen vorübergehenden Zustand hielt.
Alle zwei Tage rief Lukas an, und Hildegard lebte nur für diesen Moment, dieses Klingeln des Telefons, das sich für sie irgendwie anders anhörte als jedes andere Klingeln.
Um halb sechs hielt sie es nicht mehr aus. Sie stand auf und schlich aus dem Schlafzimmer, soweit ihr das mit ihrem schmerzenden Rücken möglich war. Richard atmete ruhig und schnarchte leise. Zum Glück war er nicht aufgewacht.
Im Bad hatte sie einen kleinen Plastikstuhl in die Dusche gestellt. Das bescherte ihr ein paar entspannte Minuten. Sie saß auf ihrem Stühlchen, ließ das warme Wasser über ihre Schultern rieseln und träumte von Johannes. Wie er als Zehnjähriger am Küchentisch saß, mit dem Besteck in den Fäusten rhythmisch auf den Tisch schlug und dazu
strahlend »Wir haben Hunger, Hunger, Hunger« sang, während er auf sein Lieblingsessen, Kartoffelpuffer, wartete. Nach wenigen Sekunden stimmte auch Lukas in die Singerei ein. Hildegard briet die Reibekuchen, grinste in sich hinein und dankte dem Himmel für ihre beiden wunderbaren Söhne, die sich aus lauter Lebensfreude die Kehle aus dem Hals brüllten.
Um sechs saß sie am Küchentisch und trank ihre erste Tasse Kaffee. Er schmeckte bitter, aber sie war dankbar, überhaupt irgendetwas zu schmecken, denn süß, sauer oder scharf waren ihr eigentlich mittlerweile egal. Sie fand kaum noch einen Unterschied.
Sie machte sich nicht die Mühe, die Küchengardinen aufzuziehen, es interessierte sie nicht, ob die Sonne schien oder ob es regnete. Genauso wenig interessierte es sie, was in der Welt geschah, daher verzichtete sie auch darauf, das Radio einzuschalten.
Um halb neun kam Richard. »Morgen«, sagte er, nahm die Kanne aus der Maschine und goss sich ebenfalls einen Kaffee ein. »Wie hast du geschlafen?«
Sie zuckte die Achseln und lächelte. Er kannte die Antwort.
Richard wusch das Frühstücksgeschirr ab, saugte das Wohnzimmer, machte die Betten, lüftete das Schlafzimmer und warf einen Blick in den Kühlschrank, ob zum Mittagessen noch genügend Gemüse da war oder ob er einkaufen gehen musste.
Der Salat reichte noch, er war geradezu dankbar, nicht aus dem Haus gehen zu müssen, und zog sich in sein winziges Zimmer hinter der Küche zurück, das er zum Atelier umfunktioniert hatte.
Seit seiner Pensionierung widmete er sich in seiner freien
Zeit fast ausschließlich seinem Hobby: Er baute berühmte Bauwerke mit Streichhölzern nach. Im Moment arbeitete er am Berliner Reichstagsgebäude und hoffte, damit bis Weihnachten fertig zu sein. Der Reichstag war die Auftragsarbeit eines Arztes, der in seiner Belegklinik diese ungewöhnlichen Kunstwerke aufstellte und enorme Preise dafür bezahlte.
Richard liebte seine Arbeit mit den Streichhölzern. Wenn er sich darauf konzentrierte, ein Streichholz so zu bearbeiten, als wäre es ein dicker Balken, dann war er so angespannt, dass er darüber seine Sorgen vollkommen vergaß. Die Krankheit seiner Frau und die Möglichkeit, dass sein ältester Sohn vielleicht nicht mehr am Leben war.
Hildegard blieb bis um zehn in der Küche sitzen. Dann ging sie ins Bad, zog sich an und setzte sich auf die Couch im Wohnzimmer, um für den Rest des Tages das Telefon zu hypnotisieren.
Um halb zwölf rief Lukas an. »Alles unverändert, Mama«, sagte er. »Leider gibt es absolut nichts Neues. Johannes hat sich nicht gemeldet, wir wissen nicht mehr als vorgestern auch. Die Polizei hat sich in Rom in den Krankenhäusern und auf den Flughäfen erkundigt, aber mehr machen die nicht. Weil sie nicht davon ausgehen, dass ein Verbrechen vorliegt und sich jeder erwachsene Mensch aufhalten kann, wo er will. Wir müssen einfach warten, Mama. Warten, dass er von allein wiederkommt. Er wird einen Grund gehabt haben, dass er untergetaucht ist. Und das Problem ist, dass wir diesen Grund nicht kennen.«
Hildegards Hals war wie zugeschnürt. Sie konnte kaum sprechen. »Haben sie …«, begann sie zaghaft, »ich meine, gibt es denn vielleicht irgendeinen Kontakt zwischen den italienischen und den deutschen Behörden?«
»Ich kann es mir nicht vorstellen.«
Hildegard krallte ihre Fingernägel in die Sofalehne und versuchte sich zu beherrschen.
»Ich versteh das nicht!«, schrie sie plötzlich. »Ist es denn so unwichtig und alltäglich, wenn
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