Die Totengräberin - Roman
Fantasie kann man als Polizist einpacken. Tut mir leid, aber so ist es.«
»Jetzt gehst du zu weit.«
»Vielleicht.«
»Was willst du tun?«
»Ich weiß es noch nicht.« Gabriella schob sich die Haare aus der Stirn. »Ich glaube, ich geh ins Kino. Dein Essen steht im Kühlschrank, du kannst es dir warm machen. Schönen Abend noch.«
Neri sah ihr todunglücklich hinterher, als sie die Küche verließ. Heute Abend hatte sie zum ersten Mal die Sätze gesagt, vor denen er sich immer gefürchtet hatte.
»Ich kann nicht mehr«, hatte sie gesagt, und: »Ich habe keine Lust mehr.«
Morgen würde sie vielleicht sagen: »Ich verlasse dich und gehe zurück nach Rom.« Und dann war alles aus.
48
Magda schrie.
Lukas schoss aus seinem Bett hoch. Ihm war schwindlig, er wusste für Sekunden nicht, wo er war, die ganze Welt drehte sich, und er hörte nur diesen markerschütternden Schrei, der ihm Angst machte.
Er knipste die Nachttischlampe an, und in diesem Moment hörte sie auf. Ihr Gesicht war schweißnass, ihr Laken, mit dem sie sich bei dieser Hitze zudeckte, lag zusammengeknüllt am Fußende des Bettes, und sie starrte ihn angsterfüllt an.
»Was ist?«, flüsterte er. »Was hast du geträumt?«
Sie schwieg, zitterte am ganzen Körper, und er nahm sie in den Arm. »Alles ist gut, Magda, es ist alles in Ordnung. Ich bin hier, mach dir keine Sorgen.«
Magda seufzte und schmiegte sich an ihn.
»Ich habe geträumt, ich habe dich umgebracht«, schluchzte sie. »Ich habe dich umgebracht und in der Erde vergraben, und die Wildschweine haben dich gefressen.«
Er drückte sie fest an sich.
»Schlaf weiter, es war nur ein Traum, es ist nichts passiert.«
Magda seufzte, sank zurück in ihre Kissen und war binnen weniger Minuten wieder eingeschlafen.
Aber Lukas sah sie noch lange an, und die Angst fuhr ihm durch den Körper wie ein glühendes Messer.
Zwei Tage später kam das nächste Foto. Diesmal mit der Post und eindeutig an Signore Tillmann, Località La Roccia, adressiert. Lukas holte den Brief eigenhändig vom Postamt ab und war diesmal darauf gefasst, was ihn erwartete.
Wieder ein Bild von Johannes. Aus anderer Perspektive, aber nicht weniger erschreckend. Nur nicht ganz so nah, aus etwas weiterer Entfernung, aber dennoch konnte Lukas nicht erkennen, wo das Foto gemacht worden war.
Was bezweckte der Absender mit dem Zusenden dieser Fotos? Wollte er ihn lediglich verrückt machen?
Lukas brach der Schweiß aus. Fieberhaft suchte er nach einer Idee, was er machen und wie er sich verhalten sollte, aber da kam kein einziger Gedanke.
49
Hildegard Tillmann hatte vielleicht drei Stunden geschlafen. Wenn überhaupt. Seit Tagen oder Wochen ging das so. Es waren die unerträglichen Rückenschmerzen und die Sorge um Johannes, die sie einfach keine Ruhe finden ließen. Seit halb fünf lag sie wach und unbeweglich auf dem Rücken, wagte es nicht, Licht anzuschalten, um Richard nicht zu stören. Sie brauchte dringend eine Schmerztablette, traute sich aber nicht aufzustehen.
Die Menge, die sie an Tabletten schluckte, war unvorstellbar, und sie wunderte sich jeden Tag, wie ihr Magen das überhaupt verkraften konnte. Sie nahm blutdruck- und cholesterinsenkende Mittel, Aspirin, um das Blut zu verdünnen und einem Herzinfarkt vorzubeugen, des Weiteren Kalium fürs Herz, Kalzium für die Knochen, Vitamine fürs allgemeine Wohlbefinden, etwas zum Abführen, Schmerztabletten für den Rücken und neuerdings auch noch Antidepressiva, Beruhigungs- und Schlafmittel für die Nacht, was aber nichts daran änderte, dass sie trotzdem wach lag. Ihr Pillendöschen war mit fünfzehn Tabletten pro Tag immer prall gefüllt, kam noch eine Erkältung oder eine andere Erkrankung hinzu, hatte sie das Gefühl, überhaupt nur noch durch Medikamente zu existieren.
»Deine Rückenschmerzen sind rein psychisch«, sagte Richard
immer wieder, »du hast einfach im Moment eine schwere Last zu tragen.«
Das wusste Hildegard, und die Bemerkung ihres Mannes nutzte ihr nicht viel. Die Rückenschmerzen verschwanden nicht, auch wenn sie sich bewusst machte, woher sie kamen.
Seit Johannes vermisst wurde, hatte sie nicht mehr gekocht, nicht mehr sauber gemacht und war nicht mehr einkaufen gegangen. Richard hatte all diese Aufgaben widerwillig, aber stillschweigend erledigt. Hildegard lag nur still und leidend auf der Couch und überlegte, ob es nicht letztendlich schmerzloser und besser sein würde, eine Überdosis Schlaftabletten zu schlucken oder vom
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