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Die Totenleserin1

Die Totenleserin1

Titel: Die Totenleserin1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: franklin
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Fenstersprung umgestoßen. Ich hob den Käfig auf, und der Vogel verriet mir, wo ich seinen Herrn finden würde.«
    »Wie? Wie konnte er Euch das sagen?«
    »Nun, er nannte mir nicht gerade seine Adresse. Er starrte mich mit diesen frechen Vogelaugen an und sagte, ich sei ein hübscher Junge und schlauer Junge – die üblichen Dinge eben, doch das Wissen, dass ich Rakshasas Stimme hörte, verlieh ihrer Banalität etwas Erschreckendes. Er hatte ihm Sprechen beigebracht. Nein, nicht,
was
er sagte, war aufschlussreich, sondern,
wie
er es sagte. Es war der Akzent. Er sprach den Akzent von Cambridgeshire. Der Vogel hatte die Sprechweise seines Herrn nachgeahmt. Rakshasa stammte aus Cambridgeshire.«
    Der Steuereintreiber bekreuzigte sich, um dem Gott zu danken, der so gut zu ihm gewesen war. »Ich ließ den Vogel sein ganzes Repertoire runterrasseln«, sagte er. »Jetzt hatte ich genügend Zeit. Ich konnte Guiscard nach Angers bringen, weil ich wusste, welchen Weg Rakshasa nehmen würde. Er wollte nach Hause und sich mit dem Rest von Guiscards Juwelen dort niederlassen. Und das hat er getan, er ist hier, und diesmal wird er mir nicht entkommen.«
    Rowley sah Adelia an. »Den Käfig habe ich immer noch«, sagte er.
    »Was ist aus dem Vogel geworden?«
    »Ich habe ihm den Hals umgedreht.«
    Die Totengräber waren nach getaner Arbeit unbemerkt gegangen. Der lange Schatten der Wand am Ende des Gartens hatte nun die Rasenbank erreicht.
    Adelia fröstelte in der kühlen Abendluft und merkte, dass ihr schon länger kalt war. Vielleicht gab es noch mehr zu sagen, doch im Augenblick fiel ihr nichts ein. Ihm ebenso wenig. Er stand auf: »Ich muss mich um die Vorbereitungen kümmern.« Das hatten schon andere für ihn besorgt.
    Ein Sheriff, ein Araber, ein Steuereintreiber, der Prior von St. Augustine, zwei Frauen und ein Hund standen oben an der Treppe vor dem Haus, als Simon aus Neapel in seinem Weidensarg, geleitet von Fackelträgern und gefolgt von jedem jüdischen Mann in der Burg, zu seiner Ruhestätte unter dem Kirschbaum am anderen Ende des Gartens getragen wurde. Man forderte sie nicht auf, näher zu treten. Unter einem zunehmenden Mond sahen die Gestalten der Trauernden sehr dunkel und die Kirschblüten sehr weiß aus, ein schwebender Flockenwirbel.
    Der Sheriff trat von einem Bein aufs andere. Mansur legte die Hände auf Adelias Schultern, und sie lehnte sich nach hinten gegen ihn, lauschte, ohne die Worte verstehen zu können, der tiefen, melodischen Stimme des Rabbi, der den 91. Psalm rezitierte.
    Worauf sie nicht achtete, was keiner von ihnen zur Kenntnis nahm, weil sie sich an die unablässigen Geräusche in der Burg gewöhnt hatten, war der Klang erhobener Stimmen unten am Haupttor, wo Pater Alcuin, der Priester, seinem Missfallen Luft gemacht hatte.
    Nachdem sie sich das angehört hatte, war Agnes aus ihrer Hütte gestürmt und hinunter in die Stadt gelaufen, und Roger aus Acton hatte den Wachen mehr und mehr eingeredet, dass ihreBurg durch die geheime Bestattung eines Juden auf ihrem Grund und Boden entweiht würde.
    Die Trauernden unter dem Kirschbaum hörten es, denn ihre Ohren waren auf Gefahr geeicht.
    »E ma’alah rachamim«, Rabbi Gotsces Stimme bebte nicht. »Schochain bahm-ro … Herr, der Du voll mütterlicher Gnade bist, schenke unserem Bruder Simon tiefe und vollkommene Ruhe unter den Schwingen Deiner schützenden Gegenwart zwischen den Hohen, Heiligen und Reinen, strahlend wie das leuchtende Firmament, und den Seelen aller aus Deinem Volk, die getötet wurden in und um die Länder, in denen unser Urvater Abraham wandelte.«
    Worte, dachte Adelia. Ein unschuldiger Vogel kann die Worte eines Mörders wiederholen. Worte können am Grab des Menschen gesprochen werden, den er tötete, und sie können Balsam auf die Seele gießen. Sie hörte das dumpfe Klopfen von Erde, die auf den Sarg geworfen wurde. Jetzt bewegte sich der Zug durch den Garten auf das Tor zu, und obwohl sie keine Jüdin war und noch dazu nur eine Frau, wurde sie von jedem Mann gesegnet, der vor der Treppe vorbeiging, auf der sie stand. »Hamakom i’nachem etschem b’toch sch’ar awailai tzijon ee jeruschalajim. Möge Gott dich trösten zwischen all den Trauernden Zions und Jerusalems.«
    Der Rabbi blieb stehen und verneigte sich vor dem Sheriff. »Wir sind dankbar für Eure Wohltätigkeit, Mylord, und möge man sie Euch nicht verübeln.« Dann waren sie fort.
    »Nun denn«, sagte Sheriff Baldwin und wischte über sein Gewand. »Wir

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