Die Totenleserin1
gehen, und bemerkte zum ersten Mal, wie stocksteif Gyltha in der Ecke stand. »Was hast du?«
Die Haushälterin sah ausgelaugt aus, plötzlich gealtert. Sie hatte die Hände geöffnet und hielt einen kleinen Weidenkorb, fast so wie die Gläubigen das geweihte Brot vom Priester entgegennahmen, ehe sie es in den Mund steckten.
Rowley rief vom Bett aus: »Sir Joscelin hat mir was Süßes mitgebracht, Adelia, aber Gyltha will mich nicht kosten lassen.« »Ich war das nicht«, sagte Joscelin, »ich bin nur der Überbringer. Lady Baldwin hat mich gebeten, den Korb mit nach oben zu nehmen.«
Gylthas Blick hielt den von Adelia fest, wanderte dann nach unten zu dem Korb. Sie hielt ihn weiter mit einer Hand und hob den Deckel sacht mit der anderen an.
Auf hübschen Blättern, wie Eier in einem Nest, lag eine Ansammlung von bunten, duftenden rautenförmigen Jujuben.
Die beiden Frauen starrten einander an. Adelia wurde schlecht. Mit dem Rücken zu den Männern formte sie lautlos das Wort:
»Gift?«
Gyltha zuckte die Achseln.
»Wo ist Ulf?«
»Mansur«,
hauchte Gyltha zurück.
»In Sicherheit.«
Adelia sagte langsam: »Der Arzt hat Sir Rowley Süßes verboten.«
»Dann bietet sie unserem Besuch an«, rief Rowley.
Wir können uns nicht vor Rakshasa verstecken, dachte Adelia. Wir sind Ziele. Wo immer wir sind, wir stehen ungeschützt da wie Strohpuppen, die er mit einem Angriff treffen kann.
Sie nickte Richtung Tür, wandte sich zu den Männern um undwünschte ihnen einen guten Morgen, während Gyltha hinter ihr mit dem Korb den Raum verließ.
Die Arzneien.
Hastig überprüfte Adelia sie. Sämtliche Fläschchen waren fest verschlossen, die Kästchen so akkurat gestapelt, wie sie und Gyltha das immer taten.
Du benimmst dich lächerlich, dachte sie. Er ist irgendwo da draußen. Er kann sich an nichts zu schaffen gemacht haben. Aber das nächtliche Entsetzen vor einem geflügelten Rakshasa hatte sie erneut erfasst, und sie wusste, dass sie jedes Kraut, jeden Sirup auf dem Tisch austauschen würde.
Ist er
wirklich
draußen? War er hier?
Ist er jetzt hier?
Hinter ihr drehte sich das Gespräch inzwischen um Pferde, wie immer, wenn Ritter unter sich waren.
Sie war sich bewusst, wie lässig Gervase auf seinem Stuhl saß, weil sie spürte, dass er sich
ihrer
Anwesenheit bewusst war. Seine Äußerungen waren brummig und zerstreut. Als sie zu ihm hinüberschaute, wurde sein Blick betont höhnisch.
Mörder oder nicht, dachte sie, du bist ein Scheusal, und allein deine Anwesenheit ist schon eine Beleidigung. Sie schritt forsch zur Tür und hielt sie auf. »Der Patient ist müde, Gentlemen.« Sir Joscelin stand auf. »Es tut uns leid, dass wir Doktor Mansur nicht angetroffen haben, nicht wahr, Gervase? Richtet ihm bitte unsere Empfehlung aus.«
»Wo ist er?«, wollte Sir Gervase wissen.
»Er frischt Rabbi Gotsces Arabischkenntnisse auf«, erwiderte Rowley.
Als er auf dem Weg nach draußen an ihr vorbeiging, sagte Gervase halblaut wie zu seinem Gefährten: »Das ist ja wohl ein Witz, ein Jude und ein Sarazene in einer königlichen Burg. Warum zum Teufel haben wir eigentlich einen Kreuzzug unternommen?«
Adelia schlug die Tür hinter ihnen zu.
Rowley sagte barsch: »Verdammt, Frau, ich war gerade dabei, das Gespräch auf Outremer zu bringen, um herauszufinden, wer wo wann war. Vielleicht hätte einer unabsichtlich was über den anderen verraten.«
»Und?«, fragte sie.
»Ihr habt sie zu schnell rausgeschmissen, verdammt noch mal.« Adelia erkannte die Reizbarkeit eines Genesenden. »Aber interessanterweise hat Bruder Gilbert zugegeben, dass er auf Zypern war, und die Zeit würde ungefähr passen.«
»Bruder Gilbert war hier?«
»Und
Prior Geoffrey
und
Sheriff Baldwin
und
der Apotheker – mit einem Gebräu, das meine Wunde binnen Minuten heilen wird, wie er mir versichert –
und
Rabbi Gotsce. Ich bin ein beliebter Mann. Was habt Ihr denn?« Adelia hatte ein Kästchen mit zerstoßenen Klettenwurzeln so fest auf den Tisch geknallt, dass der Deckel absprang und eine grünliche Staubwolke aufstieg.
»Ihr seid nicht beliebt«, sagte sie zähneknirschend. »Ihr seid so gut wie tot. Rakshasa wollte Euch vergiften.«
Sie ging zurück zur Tür und rief nach Gyltha, aber die Haushälterin kam bereits mit dem Korb die Treppe herauf. Adelia riss ihn ihr aus der Hand, öffnete ihn und hielt ihn Rowley unter die Nase. »Was sagt Ihr dazu?«
»Gütiger Gott«, sagte er. »Jujuben.«
»Ich hab mich erkundigt«, sagte Gyltha. »Ein
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