Die Totenleserin1
Mylord.«
»Ein Sarazene?«
»Ein ausgezeichneter arabischer Arzt, Mylord.«
»Sie braucht weder einen Arzt noch einen Diener. Und wir ebenso wenig.«
Mansur war aus dem Raum verbannt worden.
Prior Geoffrey stand mit Sheriff Baldwin auf einer Seite der Stuhlreihe – Bruder Gilbert hinter ihnen.
Der gute Prior hatte sein Bestes getan. Die schreckliche Geschichte war erzählt worden, Adelias und Simons Rolle darin erläutert, ihre Entdeckungen und Simons Tod geschildert und die Dinge beschrieben, die der Prior mit eigenen Augen unter dem Wandlebury Hill gesehen hatte. Dann hatte er die Anklage gegen Schwester Veronica umrissen.
Umsichtigerweise hatte er weder Adelias Untersuchung der Kinderleichen noch ihre berufliche Befähigung dazu er wähnt – eine Unterlassung, für die sie Gott dankte. Sie steckte schon genug in Schwierigkeiten, das wusste sie, eine Anklage wegen Hexerei hätte ihr gerade noch gefehlt.
Hugh der Jäger war ins Refektorium gerufen worden, zusammenmit seinen Bürgen, den Männern, die gemäß dem englischen Rechtssystem seine Glaubhaftigkeit versichern mussten. Er hatte dagestanden, seinen Hut an die Brust gedrückt, und ausgesagt, dass er, als er in den Schacht hinuntersah, eine blutige, nackte Gestalt erblickt hatte, in der er Sir Joscelin von Grantchester erkannte. Dass er später in den Schacht hinuntergestiegen war. Dass er das Feuersteinmesser untersucht hatte. Dass er das Hundehalsband an der Kette in der mutterschoßartigen Kammer wiedererkannt hatte …
»Das hat Sir Joscelin gehört, Mylords. Ich hab’s früher oft an seinem Hund gesehen – hatte sein Siegel ins Leder eingeprägt, jawohl.«
Das Hundehalsband wurde vorgelegt, das Siegel untersucht. Kein Zweifel, dass Sir Joscelin von Grantchester die Kinder getötet hatte – die Richter waren entsetzt gewesen.
»Joscelin von Grantchester soll zum gemeinen Verbrecher und Mörder erklärt werden. Seine sterblichen Überreste sollen vor aller Augen auf dem Marktplatz in Cambridge aufgehängt werden, und ein Christenbegräbnis soll ihm verwehrt bleiben.«
Was Schwester Veronica anging …
Gegen sie gab es keine unmittelbaren Beweise, weil Ulf nicht aussagen durfte.
»Wie alt ist der Junge, Prior? Er kann erst mit zwölf einen Bürgen bekommen.«
»Neun, Mylord, aber er ist ein aufmerksames und ehrliches Kind.«
»Welchen Standes?«
»Er ist frei, Mylord, kein Leibeigener. Er arbeitet für seine Großmutter und verkauft Aale.«
An dieser Stelle gab es eine Unterbrechung durch Bruder Gilbert, der dem Archidiakon verräterisch ins Ohr flüsterte und dabei sichtlich zufrieden wirkte.
Aha, die Großmutter war nicht verheiratet, war es nie gewesen, hatte demnach illegitime Kinder geboren. Der Junge war folglich ein Bastard, ohne jedes Ansehen. »Das Gesetz erkennt ihn nicht an.«
Also war Ulf wie Mansur in die Küche hinter dem Refektorium verbannt worden, wo Gyltha ihm die Hand auf den Mund legte, damit er nicht lautstark protestierte, und beide auf der anderen Seite einer offenen Klappe lauschten, durch die der Duft von Speck und Suppe drang, um sich mit dem Geruch des dicken, regenfeuchten Hermelinbesatzes an den Richterroben zu vermischen, während Rabbi Gotsce, der gleichfalls in der Küche weilte, ihnen den Fortgang des Verfahrens übersetzte, das auf Latein abgehalten wurde.
Schon allein seine Anwesenheit hatte das Gericht empört.
»Ihr wollt, dass wir einen Juden anhören, Prior Geoffrey?« »Mylords, die Juden dieser Stadt sind böse verleumdet worden. Sir Joscelin war nachweislich einer ihrer Hauptschuldner und hat in seiner Boshaftigkeit dafür gesorgt, dass sie des Mordes beschuldigt und die Schuldnerlisten verbrannt wurden.«
»Hat der Jude Beweise dafür?«
»Die Listen wurden vernichtet, Mylord, wie ich bereits sagte.
Aber der Rabbi darf doch gewiss …«
»Das Gesetz erkennt ihn nicht an.«
Das Gesetz erkannte auch nicht an, dass eine Nonne, der die Reinheit ins Gesicht geschrieben stand, zu dem imstande gewesen wäre, wessen Adelia sie beschuldigte.
Die Priorin sprach für sie …
»Wie unsere geliebte Gründerin, St. Radegund, wurde Schwester Veronica in Thüringen geboren«, sagte sie. »Doch ihr Vater, ein Kaufmann, ließ sich in Poitiers nieder, wo sie im Alter von drei Jahren dem Kloster übergeben und noch als Kind nachEngland gesandt wurde, aber als ein Kind, dessen Hingabe an Gott und Seine Heilige Mutter damals wie heute über jeden Zweifel erhaben war.«
Priorin Joan hatte ihre Stimme
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