Die Totenmaske
versuchte, mit ihrer Geschwindigkeit mitzuhalten. Er war gut trainiert. Doch regelmäßige Besuche im Vierundzwanzig-Stunden-Fitnesscenter erforderten eine andere Art der Kondition als ein Waldlauf mit Hindernissen, denen man ständig ausweichen musste. Schon nach einer Weile hätte Leon Mühe gehabt, sich zu orientieren. Nahezu undurchdringlich schloss sich der Wald in alle Richtungen wie eine Ringmauer. Überall wucherten überdimensionale Farngewächse. Moosflechten zogen sich über die Stämme uralter Bäume, weil kaum Sonnenlicht in die schattigen Tiefen hinabdrang. Ein Blick nach oben zeigte Fetzen von strahlend blauem Himmel zwischen Baumwipfeln, die im Wind schaukelten. Selbst das Zwitschern der heimischen Vögel wirkte wie gedämpft. In der Ferne nahm er das Geräusch eines Flugzeuges wahr, das vom nahe gelegenen Flughafen Hahn startete. Ansonsten stellte das von ihren Schritten verursachte Knacken der Zweige, die am Boden lagen, das einzige Geräusch dar. Instinktiv tastete er nach seinem GPS-Gerät, beließ es aber, wo es war.
Zoe Lenz lief zielstrebig voran und schien genau zu wissen, wohin es ging. Nach einer Weile verringerte sie den Abstand zwischen ihnen. »Joshs Vater lebt sehr zurückgezogen in der Jagdhütte. Früher wohnte Josh eine Zeitlang bei seiner Großmutter im Ort, damit er nicht täglich den langen Schulweg auf sich nehmen musste.«
»Erklärt das Missverständnis mit seiner Adresse«, fügte Leon hinzu.
Sie zuckte leicht mit den Schultern. »Dort hat er es aber nicht lange ausgehalten. Seine Oma war ziemlich streng.«
Da nahm er lieber die Schikanen seiner Klassenkameraden im Bus auf sich. Der Schulbus fuhr allerdings nur bis zur letzten Möglichkeit, um auf die Umgehungsstraße abzubiegen. Von dort aus benutzte Josh Schleichwege durch den Wald.
»Ich war nur ein paarmal bei ihm zu Hause. Seinen Vater habe ich dabei kaum gesehen. Entweder war er unterwegs oder im Lehnstuhl eingenickt«, erzählte sie und warf einen kritischen Blick nach oben.
Erneut erhöhte sie das Tempo. Leon gab es nicht gern zu, doch langsam kam er aus der Puste. »Warum rennen wir so?«
»Weil es jeden Moment zu regnen anfängt und wir den Unterschlupf da vorn erreichen sollten.« Sie deutete mit einer Kopfbewegung in eine bestimmte Richtung.
Leon folgte mit dem Blick und sah nichts außer Bäume. »Welcher Unterschlupf?«
Gleichzeitig klatschte der erste Regentropfen auf seine Stirn. Über ihm hatten sich unbemerkt graue Regenwolken über den eben noch klaren Himmel gezogen. Vielleicht hätte er der Wettervorhersage im Radio doch mehr Beachtung schenken sollen, deren allgemein bekannte Unzuverlässigkeit sich in den Höhen des Hunsrücker Waldes offensichtlich nicht bewahrheitete. Im Gegensatz zu Zoe Lenz machte es Leon nichts aus, ein bisschen nass zu werden. Bei dieser Wärme würden ihre Klamotten schnell wieder trocken. Doch sie war bereits losgelaufen und spurtete auf ein für ihn unsichtbares Ziel zu. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als die Beine in die Hand zu nehmen und zu hoffen, dass es nicht mehr allzu weit war.
Die klapprige Tür des Verschlags drohte aus den Angeln zu springen, als Zoe mit der Schulter dagegenstieß. Sie war seit einer Ewigkeit nicht mehr hier gewesen, kannte aber wenigstens die ungefähre Lage der Wanderhütte – sofern der provisorische Unterschlupf diese Bezeichnung verdiente. In Wahrheit handelte es sich um nichts anderes als den Nachbau eines aus Ästen erstellten Fuchsbaus mit Blätterdach. Davon gab es einige im Wald, die im Laufe der Jahre von rücksichtsvollen Wanderern errichtet worden waren. Ihr Erinnerungsvermögen hatte Zoe zumindest nicht im Stich gelassen, obwohl mittlerweile Laubranken bis zum Boden wucherten, so dass der Verschlag kaum noch auszumachen war.
Es war Eile angesagt. Inzwischen hatten die wenigen Regentropfen Gesellschaft bekommen und sich zu einem Platzregen entwickelt. Zwar hatte Zoe die Vorzeichen rechtzeitig bemerkt, dennoch waren ihre Schultern und Haare auf den wenigen Metern durchnässt worden. Strater eilte hinter ihr durch die Tür und schüttelte sich wie ein nasser Hund. Mit ihm strömte frische Waldluft herein und vertrieb den modrigen Geruch im Innern des Verschlags. Der kleine Raum maß keine acht Quadratmeter und war lediglich mit einer Bank ausgestattet. Das genügte für gewöhnlich, um auszuharren, denn so schnell ein Platzregen einsetzte, so schnell konnte er auch wieder aufhören.
Zahlreiche eingeritzte und nicht immer
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