Die Totenmaske
Jagdhütte seines Vaters führen. Dort wohnt er nämlich tatsächlich.«
Kapitel 14
L eon war für den nächsten Morgen mit Zoe Lenz verabredet, um sich mit ihr gemeinsam auf die Suche nach Josh zu begeben. Ein paar wichtige Dinge wie ein tragbares GPS-Gerät und sein Handy hatte er in seinen Jackentaschen auf der Rückbank verstaut. Allzu lange dürften sie nicht im Wald unterwegs sein. Immerhin wusste die junge Frau, wo sich die Jagdhütte befand. Dennoch konnte es nicht schaden, eine Flasche Wasser mitzunehmen. Die Sonne lugte am östlichen Horizont hinter dem Gebäude des Bestattungsunternehmens Lenz hervor und versprach einen heißen Tag. Leon fuhr mit dem Wagen vor. Unterwegs hatte er noch getankt und bei dieser Gelegenheit ein paar Donuts an der Tankstelle gekauft. Dennoch war er eine Stunde zu früh. Vielleicht gehörte Zoe Lenz auch zu der überpünktlichen Sorte Mensch. Schlimmstenfalls würde er sie im Pyjama antreffen. Für diesen Anblick wäre er gern bereit gewesen, zu warten, bis sie aufbrachen.
Gerade als Leon die Türklingel betätigen wollte, erweckte ein Geräusch seine Aufmerksamkeit. Er trat einen Schritt zurück und blickte die Häuserfassade hinauf. Dabei lauschte er, um herauszufinden, woher das monotone Gemurmel kommen mochte. Nicht besonders klangvoll, erinnerte es dennoch ein bisschen an Gesang. Verwundert blickte Leon sich um. Frau Lenz hätte doch kaum ihrem Ausflug zugestimmt, wenn für heute eine Trauerfeier vorgesehen gewesen wäre.
Das Beerdigungsunternehmen lag abseits des ohnehin schon ruhigen Dorfes. Bei etwas mehr Umgebungslärm hätte Leon das seltsame Geräusch möglicherweise nicht wahrgenommen oder es für das Rauschen des Windes gehalten. Im Haus schien alles ruhig zu sein. Unweit dahinter grenzte der Hunsrücker Wald an, davor lag die kleine Kapelle. Stutzig geworden, machte er sich über den schmalen Steilweg an den Aufstieg. Vor den hölzernen Stufen blieb Leon stehen. Der Gesang hatte abrupt aufgehört. Gerade eben? Oder als er auf dem Weg hinauf gewesen war? Er war sich nicht sicher. Ein eigenartiges Gefühl beschlich ihn, ließ ihn zögern, ohne Einladung auf einem fremden Grundstück herumzulaufen. Unsinn! Er war schließlich Polizist. Neugier gehörte zu seinem Beruf.
Morgendliche Stille lag wie ein Schleier der Vergangenheit über der Umgebung. Nur vereinzelt zwitscherten Vögel in der Ferne, während ihre Artgenossen innezuhalten schienen. Leon drehte sich um, damit der Anblick seines Autos unten auf der Straße ihn daran erinnerte, dass er sich im einundzwanzigsten Jahrhundert befand. Ein Windstoß strich über ihn hinweg, kühler als für die Jahreszeit üblich. Die feinen Härchen auf Leons nackten Armen richteten sich auf.
Die kleine Handglocke bimmelte leise in ihrer Befestigung über der Eingangspforte der Kapelle. Gedämpft vom soliden Mauerwerk der Miniaturkirche, drang eine Frauenstimme aus dem Inneren der Kapelle an sein Ohr. Die einst weiße Tür konnte sich an ihren letzten Anstrich nicht mehr erinnern. Leon drückte sie auf und trat in die kühle Dunkelheit. Seine Augen brauchten einen Moment, um sich an das gedämpfte Licht zu gewöhnen. Durch die geöffnete Tür zog ein Sonnenstrahl seine Spur über den blassroten Teppich des Mittelgangs. Feinste Staubpartikel schwirrten in der Luft, wurden unsichtbar, sobald sie die Grenze von Licht und Schatten überschritten hatten. Jeder Platz auf den Holzbänken schien von Gläubigen besetzt zu sein, die ihre Blicke starr nach vorn richteten. Unangenehm berührt, räusperte Leon sich leise und nickte entschuldigend. Doch niemand nahm Notiz von ihm, obwohl sein Eintreten nicht unbemerkt geblieben sein konnte. Er empfand die andächtige Atmosphäre in jeder Kirche als ergreifend. Das hatten Gottesdienste wohl so an sich. Doch die demütige Haltung der vorwiegend schwarz gekleideten Gestalten in den Bänken erinnerte ihn an Quäker, eine religiöse Gemeinschaft, die sich im siebzehnten Jahrhundert unter dem Einfluss eines Laienpredigers gegründet hatte und auf Außenstehende aufgrund ihrer Bräuche bis heute befremdlich wirkte. Die ungewöhnlich frühe Morgenstunde verlieh dem Ganzen den Hauch eines geheimen Treffens.
Die Stimme der Frau auf der Kanzel erfüllte den Raum auf beeindruckende Weise. Warm, kraftvoll und überdeutlich transportierte sie die Worte zu jedem einzelnen Zuhörer. Leon fand keine Anzeichen für die technische Vorrichtung eines Mikrofons oder Lautsprechers.
»Und er sprach: Siehe, hier
Weitere Kostenlose Bücher