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Die Totenmaske

Die Totenmaske

Titel: Die Totenmaske Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Henke
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ist Feuer und Holz; wo ist aber das Schaf zum Brandopfer?
    Abraham antwortete: Mein Sohn, Gott wird sich ersehen ein Schaf zum Brandopfer. Und gingen die beiden miteinander.
    Und als sie an die Stätte kamen, die ihm Gott gesagt hatte, baute Abraham dort einen Altar und legte das Holz darauf und band seinen Sohn Isaak, legte ihn auf den Altar oben auf das Holz und reckte seine Hand aus und fasste das Messer, dass er seinen Sohn schlachtete.
    Da rief ihn der Engel des Herrn vom Himmel und sprach: Abraham! Abraham! Er antwortete: Hier bin ich.
    Er sprach: Lege deine Hand nicht an den Knaben, und tu ihm nichts; denn nun weiß ich, dass du Gott fürchtest und hast deines einzigen Sohnes nicht verschont um meinetwillen.«
    Die Predigerin schloss die Augen, ihre Hände ruhten auf dem Stehpult. Die dramaturgische Einlage beschied nicht nur den Leuten im Raum eine erwartungsvolle Atempause. Leon wartete ebenso darauf, dass die Frau weitersprach.
    »Wir alle wissen um Abrahams Versuchung im ersten Buch Mose, Kapitel 22, wie er Gottes Wort missdeutete und dennoch die Prüfung bestand. Denn er hat gesehen, was er sehen sollte. Gott hat sehend gemacht.«
    Plötzlich richtete die Predigerin ihren Blick in Leons Richtung, ohne ihre Rede zu unterbrechen. Ihre Halsschlagadern traten hervor, es schien, als schwölle ihr Hals an. Ihre Augen glänzten im Schein der Kerzen.
    Leon zuckte zusammen und wunderte sich im selben Moment über seine Reaktion. Für einen Moment schien er eingelullt gewesen zu sein im Netz der kryptischen Worte, deren mitreißende Leidenschaft wie Spinnweben im Gebälk der Kapelle hängen geblieben war. Er drehte sich um, um sicherzugehen, dass die Aufmerksamkeit der Predigerin tatsächlich ihm galt. Tat sie nicht. Beinahe hätte er erleichtert ausgeatmet, als er Zoe Lenz neben sich wahrnahm. Sie war unbemerkt hinter ihn getreten und erwiderte nun mit einer Intensität den Blick ihrer Mutter, dass Leon verblüfft zurückwich. Obwohl ihre Miene vollkommen regungslos blieb, konnte kaum mehr Entschlossenheit vermittelt werden. Die beiden Frauen standen sich gegenüber wie kampfbereite Feldherren, darauf bedacht, die Armee zwischen ihnen auf ihre Seite zu bringen.
    Unnötigerweise hob die Predigerin ihre Stimme. »Wie Gott auf Abrahams Berg sichtbar wurde, so sehen wir ihn auch hier unter uns. Denn auch wir machen uns für Gott sichtbar und erkennen den Gehörnten, das leibhaftige Böse. Und sehet, Gott ist bei den Getöteten, bei jenen, die zu Lebzeiten blind waren.«
    »Mutters Lieblingspredigt«, sagte die junge Frau tonlos und zuckte mit den Achseln. »Sie sieht in ›Abrahams Versuchung‹ ihre apostolischen Lehren bestätigt, besonders was die Vergebung der Sünden nach dem Tod betrifft.« Sie drehte sich um und steuerte auf den Ausgang zu. Leon folgte ihr.
    »Aber reden kann sie«, erwiderte er, nicht ohne Bewunderung. Draußen vertrieben die Sonnenstrahlen schnell die Gänsehaut auf seinem Rücken.
    Zoe Lenz ließ mit einem Rums die schwere Tür hinter ihnen ins Schloss fallen. Dahinter predigte ihre Mutter ohne Unterlass weiter, als wären sie beide nie da gewesen.
    »Sie kennen sich ziemlich gut mit Bibelstellen aus«, bemerkte Leon.
    Zoe warf ihm unter zusammengezogenen Augenbrauen einen Blick zu. »Wohl kaum! Es liegt daran, dass ich mir den ganzen Unsinn mein Leben lang anhören musste.«
    »Abraham. Ist das nicht der Apostel, der in blindem Gehorsam seinen einzigen Sohn verbrennen wollte?«
    »Sind Sie gläubig?« Ihre Frage klang verwundert.
    »Nur evangelisch.« Er zwinkerte ihr zu. »Ich werde aus beruflichen Gründen öfter mit den verschiedensten Auslegungsformen der Bibel konfrontiert. ›Abrahams Versuchung‹ taucht nicht selten auf, wenn Gesinnungsmörder nach ihrer Überführung versuchen, ihre Motive zu verteidigen.«
    »Das ist absurd«, erwiderte sie kopfschüttelnd.
    »Ist nicht jedes Mordmotiv absurd?«
    Sie bückte sich nach dem Rucksack, den sie am Fuße der Treppe abgelegt hatte, und schulterte ihn. Eine Antwort blieb sie ihm schuldig.
    Leon musterte den prall gefüllten Beutel. »Was haben Sie alles eingepackt? Wir haben doch keine Tagestour vor.«
    Die junge Frau warf ihm einen seltsamen Blick zu. »Wir werden mehrere Stunden unterwegs sein. Ich bin gern für alle Fälle gewappnet.«
    Während Leon ihr folgte, beschäftigten ihn weiterhin die Worte ihrer Mutter. Die Intensität, mit der sie die Geschichte vorgetragen hatte, war ihm unter die Haut gegangen. In der Bibel war die Rede

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