Die Totenmaske
Gewehrlauf mit der Hand, wobei er reflexartig seinen Kopf zur Seite neigte. Mit einem ohrenbetäubenden Knall löste sich ein Schuss, der Leon nur knapp verfehlte. Zoe stieß einen Schrei aus. Ihre Ohren klingelten.
Leon nutzte seine körperliche Überlegenheit und rammte seine Schulter gegen Josh. Gleichzeitig schlug er ihm mit einem gezielten Hieb das Gewehr aus der Hand. Josh heulte vor Wut auf, als er sich plötzlich in Leons Umklammerung wiederfand. Dieser verdrehte Joshs Arm in einem schmerzhaften Winkel nach hinten. Er verstärkte den Druck auf Joshs Ellbogen, worauf er kreischend in die Knie ging.
»Tu ihm nicht weh!«, rief Zoe zaghaft.
Die Handschellen klirrten bei jedem Schritt. Aneinandergekettet liefen Leon und Josh vor Zoe den Waldweg entlang, während sie immer noch mit ihrem schlechten Gewissen zu kämpfen hatte. Plötzlich verrauchte ihre Wut auf Josh. Sie konnte es sich nicht erklären. Stattdessen war sie betroffen von seiner Geschichte. Sie schämte sich dafür, dass sie seine Probleme nicht bemerkt, sich nicht dafür interessiert hatte. Leon hatte während des ganzen Weges auf Josh eingeredet, mit gleichbleibend ruhiger Stimme. Irgendwann hatte Josh damit aufgehört, an den Handfesseln zu zerren, und eingesehen, dass er Leon weder überwältigen noch vor ihm fliehen konnte. Doch immer noch warf er Zoe über die Schulter zornige Blicke zu, bis sie es irgendwann nicht mehr aushielt und vorzog, kleine Steinchen vor sich herzutreten.
Leon hingegen ließ nicht locker, redete in stoischer Ruhe auf Josh ein. »Willst du uns nicht erzählen, was mit deinem Vater passiert ist?«, fragte er.
»Er ist gestorben.«
»Etwas genauer bitte, wenn es geht!« In Leons Stimme zeichnete sich ein deutlicher Befehlston ab.
Zoe schüttelte den Kopf. So wurde das bestimmt nichts!
»Herzinfarkt. Papa wusste, dass es passieren würde …« Josh hielt inne, holte tief Luft.
Zoe starrte überrascht auf die beiden Rücken vor ihr. Anscheinend hatte der Befehlston den Knoten gelöst und Josh zum Reden gebracht.
»Er hat gesagt, wenn er tot ist, soll ich ihn im Wald verbuddeln und so lange von seiner Rente leben wie möglich.«
Josh lief mit hängenden Schultern weiter, als trüge er die Last der ganzen Welt.
Leon wandte sich zu Zoe um und hob eine Augenbraue. Sie funkelte ihn mit zusammengekniffenen Augen und vorgeschobenem Kinn an.
Unterdessen erzählte Josh mit leiser Stimme weiter. »Und wenn es zu viele Fragen geben würde, sollte ich einfach behaupten, er wäre abgehauen.«
Abgesehen von den Gesetzesverstößen, die Josh begangen hatte, indem er den Tod seines Vaters verschwieg und die Rentenversicherung betrog, ging die Rechnung letztlich auf. Besonders auf dem Land konnte es eine halbe Ewigkeit dauern, bis jemand den Verbleib einer Person hinterfragte, die ohnehin ein Einsiedlerleben geführt hatte.
»Ich hab’s nicht fertiggebracht, hab ihn einfach im Sessel sitzen gelassen.« Zum ersten Mal blickte Josh auf. »Es war sein Lieblingsplatz.«
Dort fing der Leichnam natürlich nach kurzer Zeit an zu stinken. Der penetrante Verwesungsgeruch hatte sich in jede Ritze des Hauses gesetzt. Selbst Joshs laienhafte Vorkehrungen konnten daran nichts ändern. Zoe vermochte sich kaum vorzustellen, wie er das ertragen hatte. Sie verstand, dass er sich nicht zu helfen gewusst und deshalb versucht hatte, sich ein paar Handgriffe in der hygienischen Totenversorgung von ihr anzueignen.
Sie beschleunigte ihre Schritte und reichte Josh ein Papiertaschentuch. Sein tränenersticktes Schnaufen war mitleiderregend. Sie tauschte einen Blick mit Leon aus. Ihre eigenen Belange rückten plötzlich in den Hintergrund. Es ging hier nicht darum, ob sie beleidigt oder ihr Stolz verletzt war. Für Josh stand weitaus mehr auf dem Spiel.
»Seit wann ist dein Vater tot?«, erkundigte Zoe sich mitfühlend.
»Letztes Jahr in den Sommerferien fand ich ihn in dem Sessel.« Er blickte sie von der Seite an.
»Warum hast du nichts gesagt?«, fragte Zoe betroffen.
Der Junge zuckte zusammen, sein Kopf fuhr zu ihr herum. »Und dann? Hättest du etwa verhindert, dass sie mich in eine Erziehungsanstalt stecken?!« Sein Tonfall klang aggressiv. Er schaute zwar in ihre Richtung, sah sie aber nicht an. Keine Spur mehr von vermeintlicher Versöhnlichkeit.
»Erziehungsanstalt«, wiederholte Leon den altmodischen Begriff. »Da hat aber jemand mächtig übertrieben, um dir Angst einzujagen. Jugendknast könnte schon besser passen.«
Am liebsten
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