Die Totenmaske
blieben stehen und schwatzten. Kinder nahmen die Gelegenheit wahr, um quer über den Marktplatz zu rennen. Fahrradfahrer radelten behäbig durch die verkehrsberuhigte Zone. Ein Eiswagen rollte aus einer Seitenstraße heran und verkündete seine Ankunft mit einer Bimmel, was sofort die Aufmerksamkeit aller Kinder auf sich zog. Auch Zoes. Sie rutschte vom Brunnenrand und kramte in ihrer Jeans nach Kleingeld.
»Da unten im Trevi-Brunnen liegt doch genug davon«, vernahm sie eine vertraute Stimme hinter ihr.
Sie drehte sich herum. »Na, hör mal, auch wenn wir uns nicht in Rom befinden, kann ich doch nicht die Wünsche der Spender vereiteln!«
Leon schlenderte um den Brunnen herum und lächelte zu ihr herauf.
»Hi«, grüßte sie erfreut.
Er kam auf sie zu und lehnte sich neben sie an den Brunnenrand. »Soll ich dir ein Eis spendieren?«
»Ich glaube, das hat noch Zeit.« Zoe warf einen Blick zur länger werdenden Schlange am Eiswagen.
Wie aus dem Nichts tauchten immer mehr Kinder mit geröteten Gesichtern auf, um sich geduldig anzustellen.
»Was führt dich denn hierher?« Wenn sie weiter so grinste, würde sie gleich eine Kiefersperre bekommen.
»Ich habe ein Zimmer in der kleinen Pension da hinten.« Leon deutete mit dem Kinn in die entsprechende Richtung.
Sie brauchte seinem Hinweis nicht zu folgen, um zu wissen, welches Haus er meinte, und zog es vor, sein Gesicht zu betrachten.
»Sag mal, ist dir dieser Jugendtreffpunkt an der Landstraße ein Begriff?«, fragte Leon beiläufig.
Zoe verging die Lust auf ein Eis. Ihr Kiefer entspannte sich, als ihr Lächeln sich auflöste. Es gab Songs, Momente und Orte, an die sie nicht gern zurückdachte, weil unangenehme Gefühle oder Erinnerungen damit verbunden waren. Diese erhöhte Lichtung im Wald war einer dieser Orte. Der Gedanke daran erzeugte einen Mahlstrom aus Erinnerungen, die durch ihren Geist stoben wie feiner Sand.
»Ja«, antwortete sie. »Den Platz kennt jeder aus seiner Jugendzeit. Für Fremde ist er allerdings nicht einfach zu finden.«
Sie atmete tief durch, um die dunklen Schatten auf ihrem Gemüt zu vertreiben.
»Ein Förster hat mir davon erzählt.«
»Das war bestimmt der alte Herr Kemper. Er ist viel im Wald unterwegs.«
»Gehst du auch manchmal dorthin?« Leon blickte sie an.
Nein, schrie eine Stimme in ihr, und sie musste sich bemühen, es nicht laut auszusprechen. Aber das wäre gelogen gewesen.
»Früher mal.«
»Verstehe.«
Tat er das wirklich? Wusste er, dass sie die Zeit meinte, bevor Boris den unbeschwerten Teenager in ihr zerstört hatte?
Die Sonne schaffte es nicht mehr, Zoe zu wärmen. Sie rieb sich über die fröstelnden Arme. Dabei wich sie Leons Blick aus. Im gegenüberliegenden Haus lehnte ein grauhaariger Mann auf ein Kissen gestützt aus seinem Fenster im ersten Stockwerk und schien wenig interessiert am Geschehen auf dem Marktplatz zu sein. Sein Gesicht war abgewandt, als beobachtete er gebannt irgendetwas in der Ferne.
»Und Josh? Gehört er zur Clique?«
Entnervt schnaubte Zoe. »Nicht dass ich wüsste …«
Leon neigte sich leicht zur Seite, um ihr ins Gesicht schauen zu können. »Hey, ich muss diese Fragen stellen!«
»Ich weiß«, entgegnete sie, ohne ihn anzusehen.
Eine unsichtbare Mauer schob sich zwischen sie wie eine unmissverständliche Grenze. Keine Spur von Vertrauen oder gar Nähe. Zoe versuchte, eine ausdruckslose Miene aufzusetzen. Laut aufheulende Motorengeräusche ließen sie augenblicklich zusammenfahren.
»Pass doch auf! Verdammter Idiot!«, brüllte der Mann aus dem Fenster.
Im nächsten Moment schoss das Motorrad aus einer der engen Gassen, schlenkerte, stieß gegen Mauerwerk, fing sich und raste mit ungezügelter Geschwindigkeit auf Zoe zu.
Der Schreck fuhr durch ihre Glieder, ließ ihre Füße zu Blei werden. Schwer im Boden verankert. Ihr Rückgrat gefror. Sie wusste, dass sie zur Seite springen, wegrennen, sich bewegen musste, wenn sie nicht wollte, dass ihr Körper gleich am Rande eines uralten Brunnens zerquetscht wurde. Stattdessen starrte sie auf das sich nähernde schwarze Visier des Helms wie ein erschrockenes Reh, kurz bevor es überfahren wird. Wie vom Rest ihres Körpers losgelöst, tastete ihre Hand hilfesuchend in Leons Richtung. Er ergriff sie und zog Zoe mit solch einer Wucht an sich, dass sie glaubte, ihr Herz würde zerspringen.
Der Motorradfahrer riss das Lenkrad herum, kurz vor der Stelle, an der sie eben noch gestanden hatte. Er verlor das Gleichgewicht und
Weitere Kostenlose Bücher