Die Totenmaske
Weile.«
»Das ist nicht das Problem. Schwieriger wird es, auf den Fotos etwas sichtbar zu machen, was mit bloßem Auge nicht zu erkennen ist. Falls dort eine Frau gewesen ist und Josh sie fotografiert haben sollte, dann eher aus Versehen. Sie wird vielleicht zu weit weg oder von Gebüsch verdeckt gewesen sein.« Leon seufzte. »Zu viele Eventualitäten. Der erste Verhandlungstag steht bevor, und ich bezweifle, dass ich den Richter um Aufschub bitten kann, solange ich ihm nur Vermutungen zu Joshs Entlastung vorlegen kann. Es kommt nun darauf an, was sich auf den Fotos befindet.«
Er wirkte gedankenverloren. Eine steile Furche zog sich über sein Nasenbein. Dazu beschleunigte er seine Schritte, was vielleicht von einer inneren Hektik herrührte. Sein Verhalten beunruhigte Zoe, brachte den Funken Zuversicht zum Verglühen.
»Vielleicht gelingt es dir ja, die Angelegenheit voranzutreiben«, meinte Zoe in der Hoffnung, er würde ihr mitteilen, was ihn beschäftigte.
»Da ist noch etwas, was Josh verschweigt.«
Sie hatte es befürchtet. »Was denn? Ich verstehe nicht.«
»Erst erinnerte er sich angeblich nicht, überhaupt jemanden gesehen zu haben, dann taucht diese Frau auf. Natürlich viel zu weit weg, um sie näher beschreiben zu können. Im nächsten Atemzug spricht er von einem Blümchenkleid. Zu diesem Zeitpunkt muss unser Phantom schon wesentlich näher gekommen sein. Klingt alles ein wenig widersprüchlich, findest du nicht?«
»Na ja, er war durcheinander und hatte Angst«, wandte Zoe ein.
Leon blieb stehen und drehte sich zu ihr um. »Genau das ist der Punkt: Warum ist er so in Panik geraten?«
Zoe blickte ihn ratlos an.
»Weil er die Frau möglicherweise kennt«, erklärte Leon.
Das war noch verwirrender. »Warum sollte er eine Mörderin decken und statt ihrer in den Knast wandern? So bescheuert ist kein Mensch!«
Leon lachte freudlos. »Wenn du wüsstest, wie oft das vorkommt! Besonders Eltern nehmen bereitwillig die Schuld ihrer Kinder auf sich. Aber ich glaube nicht, dass Josh sich über das Ausmaß im Klaren war. Ich denke, ihm wird das erst jetzt langsam bewusst.«
Während sie weitergingen, übertrug sich seine Unruhe auf Zoe.
»Außerdem ist nicht gesagt, dass er ebendiese Frau schützen wollte«, fuhr Leon fort.
»Sondern?« Zoe bog zu ihren Wagen ab.
»Jemanden, den sie kennt. Oder der mit ihr in Verbindung steht. Ich weiß es nicht – noch nicht.« Leon stellte sich vor Zoe.
»Ich bringe nachher den Fotoapparat nach Mainz ins Speziallabor.«
Beinahe beiläufig strich er ihr eine Locke aus dem Gesicht. Um ihre Unsicherheit zu verbergen, fing Zoe an, in ihrer Tasche nach den Autoschlüsseln zu kramen.
»Sehen wir uns bei Gericht?« Seine Stimme klang plötzlich weich.
Zoe nickte. Ehe sie sichs versah, küsste Leon ihr auf die Wange und ging eilig davon. Überrascht legte sie eine Hand an ihr glühendes Gesicht und sah ihm noch eine Weile nach.
Noch Tage später ging Zoe in Gedanken sämtliche ihr bekannten Frauen durch, auf die die wenigen Hinweise zutreffen konnten. Leider musste sie schnell feststellen, dass rein äußerlich betrachtet fast die Hälfte der weiblichen Bevölkerung infrage käme. Blümchenkleider waren im Sommer hochaktuell. Hinter welchem fröhlichen Design sich da eine eiskalte Giftmischerin verbergen mochte, sprengte Zoes Vorstellungskraft. Dennoch konnte sie sich nicht daran hindern, jede Frau im Sommerkleid besonders zu mustern, als würde jeden Moment eine Leuchtreklame über deren Stirn flimmern und sie als Täterin entlarven. Sie wusste selbst, wie idiotisch das war, und schüttelte auch nun, während sie an der Supermarktkasse anstand, den Kopf über sich selbst.
Mit den Ellbogen aufgestützt, schob sie ihren Einkaufswagen im Schneckentempo voran. Es war viel los an diesem Vormittag. Immer wieder drangen Gesprächsfetzen ungeduldiger Kunden zu ihr herüber, die früher nicht mehr als Schall und Rauch für sie gewesen wären. Nun schien sie für alles Mögliche sensibilisiert zu sein. Mittlerweile war der Mordfall in aller Munde; ebenso die Verhaftung von Josh. Auch Zoes Name fiel, zumindest solange niemand sie erkannte, denn dann verstummten die meisten und senkten ihre Blicke. Ansonsten taten die Leute deutlich ihre Meinung kund, welche sich nicht immer zugunsten des Angeklagten aussprach.
Als Zoe auf dem Parkplatz ihre Einkäufe einlud, erhielt sie einen Notruf über ihr Bereitschaftshandy. Ein Todesfall auf dem abgelegenen Wöhlerhof. Da sie vom
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