Die Totenmaske
Einkaufzentrum aus schneller den Hof erreichen würde als von zu Hause aus, beschloss sie, direkt dorthin zu fahren, um sich ein Bild von der Lage zu machen. Über die Freisprechfunktion forderte sie einen freiwilligen Helfer an, der ihr mit dem Bestattungswagen folgen würde. Dabei handelte es sich meist um Auszubildende der Friedhofsgärtnerei oder um Medizinstudenten aus den umliegenden Kliniken, die sich gern etwas dazuverdienten.
Die Tote trug kein Blümchenkleid, sondern einen Arbeitskittel, in dem sie auf einem Schemel vor dem hölzernen Küchentisch Platz genommen hatte, bevor sie vornübergekippt und mit dem Gesicht in einem Haufen geschälter Kartoffeln gelandet war. Ein durch das kleine Fenster des niedrigen Raumes verirrter Sonnenstrahl verlieh dem wächsernen Antlitz der Frau einen feuchten Schimmer. Das Schälmesser in der einen Hand, hatte sich die andere im Todeskampf um die Tischkante gekrallt. Heruntergefallene Kartoffelschalen übersäten den Boden. Neben dem verdrehten Fuß der Frau stand ein mit Wasser gefüllter Plastikeimer, in dem die vorbereiteten Kartoffeln bereits eine ungesunde, bräunliche Farbe angenommen hatten.
Ihr Mann stand besorgniserregend blass abseits und hatte sicher nicht damit gerechnet, nach Feierabend seine tote Frau statt Reibekuchen in der Küche zu finden. Klammheimlich hatte die Frau sich aus dem Staub gemacht, ihr unauffälliges Leben in einer zweckmäßig eingerichteten Wohnküche ausgehaucht.
Menschen wie die Wöhlers versorgten sich nahezu vollständig von eigens angebauten Erträgen. Nebenbei verdingte Herr Wöhler sich als Gärtner auf dem parkähnlichen Anwesen der Familie Nauen. Für ihn und seine Frau unterschied sich das Leben nicht maßgebend von dem ihrer bäuerlichen Vorfahren, deren Hof sie übernommen hatten. Nur bei wenigen Gelegenheiten kamen sie in Kontakt mit anderen Menschen. Ein Todesfall stellte einen solchen Anlass dar. Der örtliche Allgemeinmediziner stand am Küchenbüfett und füllte den Totenschein aus.
»Herzversagen. Sie war eine meiner Patientinnen«, erklärte er anstelle einer Begrüßung.
Offenbar hatte er die Leichenschau routiniert in kürzester Zeit vorgenommen, was es unmöglich machte, später noch brauchbare Spuren zu entdecken, falls die Frau getötet worden war. So handhabte man es auf dem Land. In diesem speziellen Fall war die Verstorbene zumindest Patientin des Arztes, der die Leichenschau vorgenommen hatte. Doch Zoe wusste, dass in Deutschland viel zu selten obduziert wurde, wodurch einige Tötungsdelikte unentdeckt blieben. Daheim zu sterben war nicht ungefährlich. Allerdings ging Zoe nicht davon aus, dass hier aus versicherungstechnischen Gründen ein Selbstmord vertuscht werden sollte. Dafür gab es nicht das geringste Anzeichen.
Der Arzt reichte Zoe einen Durchschlag des Totenscheins. »Schaffen Sie das allein?«
Zoe folgte seinem Blick zu dem gekrümmten Leichnam, dessen Gliedmaßen im Moment des Todes verdreht innegehalten hatten. Allein wäre es schwierig gewesen, die Frau auf eine Bahre zu hieven, um sie abzutransportieren.
»Es kommt gleich jemand. Bis dahin fange ich schon mal an.«
»Womit anfangen?«, kam es aus der Ecke. »So verdreht passt sie doch nicht in den Sarg.« Der Witwer schluckte schwer und starrte mit glasigen Augen herüber. Sein Brustkorb hob und senkte sich vor Aufregung in rascher Folge. »Sie wollen ihr doch nicht etwa die Knochen brechen? Ihr ganzes Leben lang hat sie sich nie etwas gebrochen!«
»Mein Güte, nein …« Zoe ging auf den Mann zu, fassungslos über dieses hartnäckige Gerücht. Es gab kaum eine Leiche, die sich nicht anständig in einen Sarg betten ließ – außer, es fehlte ein Großteil der Körperteile, und das war hier eindeutig nicht der Fall. Im Vorbeigehen warf sie dem Arzt einen hilfesuchenden Blick zu.
Dieser war schon dabei, eine Spritze mit einem Beruhigungsmittel aufzuziehen, ehe der Mann hyperventilierte.
»Niemand wird Ihre Frau verstümmeln. Ich versuche lediglich, die Starre in den Muskeln zu lösen, damit wir sie würdevoll betten können. Versuchen Sie bitte, sich zu entspannen.« Etwas ungelenk strich sie dem Mann über den Oberarm.
Ein paar passende Worte zu finden, war in Ordnung, aber trösten gehörte nicht zu Zoes Stärken. Stattdessen goss sie dem Ehemann eine Tasse Kaffee ein. Bereitwillig ließ er sich die Injektion verabreichen und setzte sich auf den vom Arzt zugewiesenen Stuhl. Dort blieb er still sitzen und beobachtete, wie Zoe mit
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