Die Totenmaske
alle Make-up-Spuren verschwunden waren. Zoe Lenz wusste vermutlich nicht einmal, dass sie aussah wie eine ernst dreinblickende Porzellanpuppe. Mit dem Gedanken an ihre leicht geröteten Wangen, wenn sich ihre Knie unter dem Tisch wie zufällig berührten, lief er weiter.
Obwohl er nicht erwartete, in den abgelegenen Waldgebieten zu beiden Seiten der Straße etwas vorzufinden, das ihn möglicherweise weiterbrachte, suchte er gewohnheitsmäßig die Umgebung ab. Dabei wählte er auf seinem Handy Willis Nummer. Nach dem dritten Versuch hatte er noch immer keinen Empfang. Er hielt das Handy hoch und lief im Slalom die Straße entlang, von einem Funkloch in das nächste. Dabei kam er sich vor wie bei dem Versuch, trockenen Fußes einen Fluss zu überqueren, indem er über herausragende Steine hüpfte.
Endlich ertönte ein Freizeichen. Leon blieb stehen, um die Verbindung nicht wieder zu verlieren. Sein Mentor klang erfreut. Mit wenigen Sätzen informierte Leon ihn über den Stand der Dinge.
»Die örtliche Bestatterin hat also eine Spur gefunden, die in der Pathologie übersehen wurde?«, vergewisserte Willi sich.
»Na ja, sie sagt, man hätte dort nicht gezielt danach gesucht, weil es sich scheinbar um einen Unfall handelte.«
»Wie alt ist sie noch mal?« Willi legte einen bedeutungsvollen Tonfall in seine Stimme.
Leon lachte verhalten. Willis zwanglose Andeutung mochte für Außenstehende wie ein väterlicher Versuch klingen, ihn zu verkuppeln, barg jedoch den subtilen Denkanstoß, Zoe Lenz von allen möglichen Seiten zu betrachten. Möglicherweise kam sie ebenso als Zeugin wie als potenzielle Verdächtige infrage.
»Scherz beiseite«, meinte Willi nach einer Weile. »Ich überprüfe gerade ihre Daten im Zentralrechner und bin fündig geworden.«
»Tatsächlich?« Leon blieb überrascht stehen.
»Es gab da einen Vorfall vor drei Jahren. Versuchte Vergewaltigung, das Verfahren wurde eingestellt.«
Mitgefühl wallte in Leon auf. Die aufkommende Wut schluckte er schleunigst hinunter, damit Willi nicht auf die Idee kommen würde, ihn für befangen zu halten. »Lass mich raten: Der mutmaßliche Täter war Boris Nauen.«
»Er und die beiden anderen Unfallopfer.«
»O Mann!«, entfuhr es Leon. Schnell räusperte er sich. »Damit hätten wir unsere drei Toten.«
»Alles in Ordnung mit dir?« Willi klang besorgt.
»Klar. Gibt es sonst noch was in ihrer Akte?«
»Ein Junge, Josh Ziller, und sein Vater haben damals anscheinend das Schlimmste verhindert und sind dem Mädchen zu Hilfe gekommen.«
Es überraschte Leon nicht, dass Joshs Name fiel. Leon war klar, dass die beiden mehr verband als eine Schulfreundschaft. Armer Kerl! Sich in ein älteres Mädchen zu verlieben, war in diesem Alter ein Fluch. Jede Wette, dass Zoe Lenz keine Ahnung davon hatte.
»Dir ist klar, dass diese junge Frau damit ein Motiv hätte?«, erkundigte Willi sich.
»Damit würde sie nicht allein dastehen«, erwiderte Leon. »Wenn dem so sein sollte, werde ich es herausfinden«, fuhr er fort.
»Davon gehe ich aus, mein Junge. Du machst das schon!«
Nachdem das Gespräch beendet war, steckte Leon sein Handy in die Tasche zurück. Natürlich wusste der Polizist in ihm sofort, dass Zoe Lenz durch den Vorfall vor drei Jahren in den engeren Kreis der Verdächtigen rückte. Der Mann in ihm wehrte sich vehement dagegen und verwarf den Gedanken sofort wieder. Nun galt es, die richtige Mischung aus Sachverstand und Sympathie zu finden. Aber er wäre kein guter Polizist gewesen, wenn ihm das nicht gelänge.
Bisher hatte er bei seinen Ermittlungen herausgehört, dass es vor Ort einige Leute gab, denen man ein mögliches Motiv zusprechen könnte. Besonders beliebt waren die toten jungen Männer nicht gewesen – zumindest bei einem Teil der Bevölkerung. Es war schwer vorstellbar, dass ein zierliches Persönchen wie Zoe Lenz es mit drei Burschen aufnehmen konnte. Anderseits gab es die skurrilsten Fälle, bei denen er sich auch nicht ausmalen konnte, dass der überführte Täter tatsächlich zu der begangenen Tat in der Lage gewesen war.
Er hatte sie zwar erst ein paarmal getroffen, doch sein Gespür sagte ihm, dass Zoe unschuldig war. Immerhin versorgte sie die drei Leichen. Zwar verstand er nicht viel vom Bestatterwesen, doch sicher hätte sie den Auftrag ebenso gut an einen Kollegen abgeben können. Es zeugte von Professionalität, dass sie sich dennoch ihrer beruflichen Aufgabe stellte. Oder von Kaltblütigkeit, echote eine gehässige Stimme in
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