Die Totensammler
Nebengebäude, das Dutzende von Kakteen beherbergt. Die Luft bei den Farnen ist schwülwarm, und nach ein paar Atemzügen werde ich sofort schläfrig. Ein Betonweg führt im rechten Winkel um die Pflanzen herum, und auf der zweiten Ebene findet sich noch mal das Gleiche.
Jesse überragt mich um etwa zwanzig Zentimeter, ist aber so mager, dass er unter einer Tür hindurchkriechen könnte. In gewisser Weise wirkt er genauso wie bei unserer letzten Begegnung, doch in vielerlei Hinsicht auch ganz anders. Im Alter von siebzehn Jahren wurde bei ihm eine Depression diagnostiziert, mit neunzehn paranoide Schizophrenie, und als er zwanzig war, ging bei der Polizei ein Notruf seiner Eltern ein. Wir fuhren zu ihrem Haus und trafen dort auf Jesse, der von seinem Vater zu Boden gedrückt wurde, während seine Mutter seine tote Schwester im Arm hielt. Inzwischen ist er fünfunddreißig und wird medikamentös behandelt, offensichtlich mit Erfolg, denn er ist frisch rasiert, ordentlich gekämmt und hat, soweit ich weiß, seit seiner Entlassung keinen Versuch mehr unternommen, einen Menschen zu verspeisen. Seine Kleidung wirkt gepflegt, und unter seinen hochgekrempelten Ärmeln sind dunkel gebräunte Unterarme zu sehen. Er dreht den Wasserschlauch zu und wendet sich in meine Richtung, offensichtlich hat er gemerkt, dass ihn jemand anstarrt.
»Ich kenne Sie von irgendwoher«, sagt er, »entweder sind Sie Arzt oder Cop.«
»Ich bin kein Arzt«, sage ich.
»Sie sind einer der Beamten, die mich verhaftet haben«, sagt er, und ich bin beeindruckt, dass er sich noch daran erinnert. »Officer Irgendwas, stimmt’s?«, sagte er mit einem Lächeln, und einen unheimlichen Moment lang glaube ich, dass er mir die Hand reichen will, jene Hand, mit der er in den Körper seine Schwester gegriffen hat, um das zarte Fleisch herauszureißen. Doch er tut es nicht.
»Inzwischen bin ich Detective«, sage ich. Wenn ich schon lüge, kann ich mir auch gleich eine Beförderung bewilligen. »Wie geht es Ihnen, Jesse?«, frage ich.
»Gut. Alles bestens«, sagt er. Ja, sieht ganz so aus. An die Stelle der Finsternis, die bei seiner Verhaftung in seinem Blick lag, ist dank der magischen Pillen jetzt ein helles Leuchten getreten. »Also, die Ärzte sorgen dafür, dass ich im Gleichgewicht bleibe. Das Problem ist nur: Je besser es mir dank ihnen geht, desto schlechter fühle ich mich wegen dem, was ich meiner Schwester angetan habe. Darum würde ich sie am liebsten absetzen.«
Bevor ich etwas erwidern kann, hält er seine Hand in die Höhe, sie ist mit Hornhaut überzogen, und die Rillen der Innenfläche sind voller Dreck. »Keine Sorge, ich weiß, wie das klingt. Ich bin es ihr schuldig, dass ich weiter meine Medikamente nehme. Und meiner Familie, dass ich wegen meiner Tat ein schlechtes Gewissen habe. Damals war alles anders. Ich habe so viele Stimmen gehört und konnte deswegen nicht schlafen, so viele, dass ich mich gar nicht richtig auf sie konzentrieren konnte. Die einzige Stimme, die ich jetzt höre, ist meine eigene. Warum sind Sie hier? Hat mein Therapeut Sie gebeten, nach mir zu sehen? Ich habe den Termin verpasst, weil es der Geburtstag meiner Schwester war und ich den Tag draußen an ihrem Grab verbringen wollte.«
»Ich bin hier, um mit Ihnen über Grover Hills zu reden.«
»Warum?«, fragt er und klingt zum ersten Mal abweisend.
»Kennen Sie diesen Mann?«, frage ich und halte das Phantombild aus der Zeitung hoch.
Er nickt. »Das ist mein Dad«, sagt er. »Er ist vor ein paar Jahren gestorben. Warum haben Sie sein Bild bei sich?«
»Das ist nicht Ihr Dad«, erkläre ich ihm. »Das ist die Zeichnung eines Mannes, den ich suche.«
»Nein, das ist eindeutig mein Vater. Ich erkenne ihn wieder.«
»Jesse, ich möchte, dass Sie mir erzählen, was in Grover Hills passiert ist.«
»Ich war krank, als man mich dorthin geschickt hat. Und die Ärzte haben mir geholfen.«
»Was ist mit dem Keller?«
Abrupt dreht er den Hahn wieder auf und besprengt mit dem Schlauch einige Pflanzen. Ein Teil des Wassers spritzt von den Farnen in seine Richtung zurück. Er versucht zu pfeifen, doch die Luft entweicht mit einem tonlosen Zischen durch sei ne gespitzten Lippen. Ich falte die Zeitungsseite zusammen und stecke sie in meine Brieftasche, dann packe ich den Schlauch und knicke ihn, um die Wasserzufuhr zu unterbrechen. Cartman dreht sich zu mir um, und offensichtlich gibt er sich geschlagen, denn er hat den Blick gesenkt.
»Der Keller, Jesse.«
»Was …
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