Die Totensammler
was für ein Keller?«, fragt er. »Ich kann mich an keinen Keller erinnern.«
»Es gab darin eine Zelle.«
»Ich will nicht darüber reden«, sagt er und weigert sich aufzuschauen.
»Hat man euch dort eingesperrt, wenn ihr nicht mehr zu bändigen wart?«
»Dafür … dafür war der Keller nicht da.«
»Wofür dann?«
»Ich will nicht darüber reden.«
»Erinnern Sie sich noch an Ihre Gespräche mit Cooper Riley?«
Er nickt. »Er wollte, dass ich ihm von meiner Schwester erzähle, und warum ich ihr das angetan habe. Er wollte wissen, was für eine Kindheit ich hatte. Er stellte jede Menge Fragen zu meinen Eltern, weil er sie offensichtlich für einen Teil meines Problems hielt. Ich mochte ihn nicht besonders.«
»Haben Sie je von dem Keller erzählt?«
»Natürlich nicht. Niemand durfte ihn erwähnen. Man hätte mir sowieso nicht geglaubt, und wenn ich ihm davon erzählt hätte, hätte man mich sofort nach unten verfrachtet.«
Ich hake nach. »Was ist in dieser Zelle passiert? Ihr musstet dort schlafen, nicht wahr?«
»Manchmal. Ich habe da nur ein paarmal geschlafen.« Er wischt sich ein paar Tränen aus den Augenwinkeln und schnieft dann deutlich hörbar.
»Wurdet ihr dort unten auch geschlagen?«
»In gewisser Weise.«
»Was ist da noch passiert?«
»Was glauben Sie wohl?«, fragt er. »Einige von uns hatten es bestimmt verdient, wegen unserer Taten. Dort unten wurde mit uns das gemacht, was wir anderen Menschen angetan haben.«
»Bitte, Jesse, es ist wichtig, dass Sie mir alles erzählen.«
»Ich hab die Zeitung gelesen, und ich weiß, was Sie wollen. Sie suchen nach Cooper Riley, aber er wusste nichts vom Schreizimmer«, sagt er, »und …« Er hält inne und realisiert, was er gerade gesagt hat. »Scheiße. Bitte, verraten Sie niemand, dass ich Ihnen das erzählt habe.«
»Das Schreizimmer ?«
»Ich muss wieder an die Arbeit«, sagt er.
»Jesse, es ist wichtig. Wenn Sie die Zeitung gelesen haben, dann wissen Sie auch, dass ich nach einem verschwundenen Mädchen suche.«
»Ich weiß«, sagt er, dann seufzt er. »So haben wir es genannt, dieses Zimmer. Schreizimmer.«
»Ihr wurdet dort runtergebracht und gefoltert?«
»Manchmal bestand die Strafe nur darin, dass man uns nach unten schickte. Das Zimmer war dazu da, uns zu disziplinieren. Doch manchmal wurden wir von den Zwillingen in den Keller gebracht.«
»Den Zwillingen?«
»Zwei Pfleger, denen es Freude bereitet hat, andere Menschen zu quälen«, sagt er. »In so einer Anstalt sind viele Menschen untergebracht, wissen Sie? Und das Zimmer hat nicht immer als Schreizimmer gedient. Wie Sie gesagt haben, meistens wurde es dazu benutzt, die Patienten in ihre Schranken zu weisen. Aber die Zwillinge haben mit den Patienten Kasse gemacht. Sie haben die Verwandten ihrer Opfer ausfindig gemacht und ihnen angeboten, sich zu rächen. Die Zwillinge haben mit unserem Schmerz Geld verdient. Manchmal hatten sie dort unten auch nur ihren Spaß mit uns. Zumindest das, was sie darunter verstanden.«
»Wie oft kam das vor?«, frage ich.
»Sie glauben mir nicht.«
»Das hab ich nicht gesagt.«
»Das müssen Sie auch nicht. Ich seh’s Ihnen doch an.«
Er hat recht. Ich glaube ihm nicht – aber er glaubt es wohl selbst nicht. Familienangehörige aufzuspüren, um sie für den Kitzel der Rache bezahlen zu lassen – das funktioniert nicht, in welcher Realität auch immer. Dazu müssten zu viele Leute wahre Meister darin sein, ein derartiges Geheimnis für sich zu behalten. Und nichts davon hilft mir bei meiner Suche nach Emma Green.
»Überzeugen Sie mich«, sage ich zu ihm. »Wie oft kam das vor?«
Er zuckt mit den Schultern. »Ständig. Da unten ist dauernd jemand gestorben. Die Patienten wurden in den Keller gebracht und eine Stunde später auf einer Bahre tot wieder rausge tragen.«
»Und niemand wusste davon?«
»Natürlich gab es Leute, die Bescheid wussten, doch denen war es egal. Das ist nicht so schwer zu glauben«, sagt er, aber er irrt sich – es ist schwer zu glauben. »Wenn es Ihre Schwester gewesen wäre, die ich umgebracht hätte, und Sie hätten die Möglichkeit, mich für hundert Dollar – oder was auch immer sie verlangt haben – leiden zu lassen, würden Sie nicht auch auf das Angebot eingehen?«
Ich weiß nicht. Hängt davon ab, ob die Person ihre Krankheit nur vorgetäuscht hat, um mit einem Mord davonzukommen, oder ob sie wirklich krank ist. So sehe ich das heute. Aber unter den entsprechenden Umständen, wer weiß? Andere
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