Die Totensammler
Sunnyview noch Eastlake, er hat nicht die leiseste Ahnung, wo sie sich befinden.
»Wovon redet er?«, fragt ihn seine Mutter.
Die Beleuchtung im Flur ist hell genug, um sie deutlich zu erkennen. Wo auch immer sie sind, es gibt hier Strom. Es könnte ein Haus sein. Irgendwo in der Stadt? Das lässt sich unmöglich sagen.
»Keine Ahnung«, antwortet Cooper, und plötzlich sieht man seiner Mutter jedes ihrer neunundsiebzig Jahre an, eigentlich noch ein paar mehr. In letzter Zeit lief sie sowieso schon mit einem Gesichtsausdruck herum, als hätte sie in eine Zitrone gebissen, aber jetzt wirkt sie, als hätte man ihr die komplette Zitrone in den Mund gestopft. Ihr graues Haar ist völlig zerzaust. Selbst wenn Adrian mit dem Elektroschocker auf sie geschossen hat, kann Cooper sich nicht vorstellen, wie er sie aus dem Haus befördert haben soll, ohne dass sie sich mit Händen und Füßen gewehrt hat, um noch mal zurückzugehen und Kamm und Lippenstift zu holen. Sie trägt ein fast rechteckig geschnittenes Nachthemd, das er ihr vor zwei Jahren zu Weihnachten geschenkt hat, weil es für zehn Dollar im Angebot war. »Hör nicht auf das, was er sagt. Er ist völlig verrückt.«
»Ich bin nicht verrückt«, sagt Adrian. »Da, er ist voller Blut. Er ist ein Mörder.«
»Ich bin kein Mörder«, sagt Cooper. Vor zwei Minuten hat Adrian seine Mutter mit vorgehaltener Waffe in die Zelle ge führt, und er konnte nicht das Geringste tun, außer dabei zu zusehen. Andernfalls hätte er sich eine Kugel eingefangen. Seine Mutter kam auf ihn zugerannt, wobei sie sich auf dem gepolsterten Boden fast beide Knöchel verdrehte, und er konnte sie gerade noch auffangen. Er nahm sie fest in den Arm, denn obwohl er nicht wollte, dass sie hier ist, war er irgendwie froh, sie zu sehen. Gleichzeitig hatte er deswegen ein schlechtes Gewissen. Doch sie war ebenfalls froh, ihn zu sehen, zu sehen, dass er noch am Leben war. Außer dem Elektroschocker besitzt Adrian jetzt auch noch eine Pistole. Mit einem Elektroschocker kann man gegen zwei Personen nicht viel ausrichten, mit einer Pistole schon. Ja, damit kann man es mit zehn Leuten gleichzeitig aufnehmen, wenn sie unbewaffnet sind. Also ist Cooper zurückgetreten, als sich die Zellentür öffnete, und seine Mutter kam herein. Er liebt seine Mutter, doch ihre Anwesenheit macht alles komplizierter. Wesentlich komplizierter.
»Warum erzählst du weiter deine Lügen? Du kannst jetzt damit aufhören«, sagt Adrian. »Du hast jetzt die Chance, dich von all deinem Hass zu befreien, dem Hass, der dich dazu gebracht hat, andere Menschen zu töten. Insgesamt sieben.«
Zwei , denkt Cooper, eigentlich nur einen. Aber sobald er es aus der Zelle schafft, werden es zwei sein. Garantiert. Verdammt, dieses kranke Arschloch trägt sogar die Sachen seines Vaters, Klamotten, die seine Mutter vor knapp vierzig Jahren hätte wegwerfen sollen, als er sie beide hat sitzen lassen. Doch aus irgendeinem Grund hat sie sie aufgehoben. »Ich bin kein Mörder.«
»Nette Menschen ziehen keine Serienmörder groß«, sagt Adrian und mustert Coopers Mutter. »Warum versuchst du sie also bei Laune zu halten, indem du lügst? Sie ist nicht nett.«
»Junger Mann, Sie brauchen dringend Hilfe«, sagt Coopers Mutter in jenem Tonfall, den sie Cooper gegenüber angeschlagen hat, wenn dieser als Junge seine Mahlzeit nicht aufessen oder den Rasen nicht mähen wollte oder wenn er gemein zu seiner Schwester war. Oder damals, als er den Wagen gestohlen hat. Es würde Cooper nicht wundern, wenn sie Adrian zwingen würde, einen Brief an sein zukünftiges Ich zu schreiben. »Ich weiß nicht, was für ein Spielchen Sie hier treiben, aber irgendjemand wird sich dabei schrecklich wehtun.«
»Ich kann beweisen, dass Ihr Sohn ein Mörder ist«, sagt Adrian.
»Schwachsinn«, sagt Cooper. »Hör nicht auf ihn.«
»Er hat mehrere Mädchen nach Sunnyview rausgefahren. Das ist eine ehemalige Anstalt, das Gebäude steht leer, und er hat sie dort gefangen gehalten, um …«
»Du bist verrückt«, schneidet Cooper ihm das Wort ab. »Hör nicht auf ihn, Mum. Er ist aus der Psychiatrie geflohen. Ich habe ihn vor ein paar Jahren mal für ein Buch interviewt. Er hat seine Familie mit einer Axt erschlagen. Und anschließend hat er ihnen die Finger abgebissen und damit die Wände beschmiert.«
»Mein Gott, wie schrecklich!«, sagt seine Mutter.
»W… was? So was hab ich nie getan«, brüllt Adrian. »Sag ihr die Wahrheit!«
»Als die Polizei eintraf, trug
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