Die Totgesagten
von euch was weiß, aber nicht redet, dann reiß ich ihm den Arsch auf und sorge dafür, dass er nie wieder in die Nähe einer Fernsehkamera kommt.« Er senkte die Stimme. »Wer jetzt nicht redet, ist am Ende. Kapiert?«
Alle rutschten nervös auf ihren Stühlen hin und her. Atemlose Stille hallte von den Wänden des Heimathofs wider. Schließlich räusperte sich Mehmet.
»Tina war’s. Ich habe gesehen, wie sie es genommen hat. Barbie hatte es unter der Matratze versteckt.«
»Halt die Fresse! Halt die Fresse, du Scheißkanake!« Tina starrte Mehmet hasserfüllt an. »Die können doch gar nichts machen, du Idiot. Du hättest nur die Schnauze halten müssen.«
»Jetzt hältst du mal den Mund!«, brüllte Patrik. Er ging auf Tina zu, die jäh verstummte und zum ersten Mal ein bisschen verängstigt wirkte.
»Wem hast du das Tagebuch gegeben?«
»Man darf seine Informanten nicht verraten«, murmelte Tina in einem letzten Anflug von Patzigkeit.
Jonna seufzte. »Die Informantin bist in diesem Fall du .« Sie starrte immer noch auf den Fußboden und ignorierte Tinas wütenden Blick.
Patrik wiederholte die Frage. Er betonte jede einzelne Silbe,als spräche er mit einem Kind: »Wem – hast – du – das Tagebuch – gegeben?«
Widerwillig gab Tina den Namen des Journalisten preis. Patrik verließ wortlos den Raum. Wenn er jetzt nicht schwieg, würde er womöglich gar nicht mehr aufhören zu reden.
Als Martin und er an Fredrik Rehn vorbeirauschten, flüsterte der Produzent kleinlaut: »Was … was … passiert denn jetzt? Sie wollen doch nicht im Ernst … Ich meine, wir dürfen doch weitermachen, oder? Die Chefetage macht mir sonst …« Rehn sah ein, dass es sinnlos war, und verstummte.
An der Tür drehte sich Patrik noch einmal um. »Macht euch von mir aus weiter im Fernsehen zum Affen. Aber wenn ihr die Ermittlungen in irgendeiner Weise behindert, dann …« Er ließ die Drohung in der Luft hängen.
Deprimiert und stumm blieben die Teilnehmer zurück. Tina sah angeschlagen aus, aber der Blick, den sie Mehmet zuwarf, sagte ihm deutlich, dass das letzte Wort noch nicht gesprochen war.
»Zurück an die Arbeit. Wir müssen die verlorene Zeit aufholen.« Fredrik Rehn scheuchte die Truppe aus dem Heimathof. Alle trotteten zurück Richtung Einkaufsstraße. The show must go on .
»Was war denn los?« Simon warf Mehmet einen besorgten Blick zu, als der sich seine Schürze wieder umband.
»Nichts. Nur der übliche Mist.«
»Haltet ihr das wirklich für gesund? Weiterzudrehen, nachdem ein Mädchen gestorben ist? Mir scheint das ja ein bisschen …«
»Was? Ein bisschen gefühllos? Ein bisschen geschmacklos?« Mehmet wurde lauter. »Und wir sind hirnlose Idioten, die im Fernsehen saufen und ficken und sich freiwillig zum Affen machen. Oder wie? Das denkst du doch! Hast du dir schon mal überlegt, dass das besser sein könnte als das,was wir zu Hause haben? Dass es eine Flucht vor etwas ist, das uns letztendlich sowieso einholen wird?« Er kam ins Stocken, und Simon drückte ihn sanft auf einen Stuhl im hinteren Teil der Bäckerei.
»Worum geht es hier eigentlich? Für dich?« Simon setzte sich zu ihm.
»Für mich?« Mehmet klang verbittert. »Um Rebellion. Ich will auf allem rumtrampeln, was etwas wert ist. Bis man die Scherben nicht mehr zusammenkleben kann.« Schluchzend schlug er die Hände vors Gesicht. Simon strich ihm sanft über den Rücken.
»Du willst nicht so leben, wie sie es von dir erwarten?«
»Ja und nein.« Mehmet sah Simon an. »Es ist ja nicht so, dass sie mich zwingen oder mir drohen, sie würden mich sonst in unsere Heimat zurückschicken, wie sich die Schweden das bei uns Ausländern immer vorstellen. Mama und Papa haben sich für uns aufgeopfert, für mich. Damit ihre Kinder einmal ein besseres Leben haben als sie. Damit wir alle Möglichkeiten haben. Sie haben alles zurückgelassen: ihr Zuhause, ihre Familien, ihren guten Ruf, ihre Arbeit, alles. Nur, damit wir es irgendwann besser haben. Für sie ist alles schlechter geworden, das sehe ich an der Sehnsucht in ihren Augen. Ich sehe die Türkei in ihren Augen. Mir bedeutet das nicht so viel. Ich bin hier geboren. Für mich ist die Türkei der Ort, wo wir Sommerferien machen, aber sie hat keinen Platz in meinem Herzen. Doch hier gehöre ich auch nicht hin. In dieses Land, wo ich ihre Hoffnungen und ihre Träume erfüllen soll. Lernen ist nicht meine Stärke, da haben nur meine Schwestern geglänzt. Das ist die Ironie des Schicksals. Ich,
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