Die Totgesagten
erklärte.
»Wenn Sie mit Silvio gesprochen haben, können Sie noch einmal zu uns kommen und sich unten am Empfang ein Paket mit dem gesamten Material abholen.« Gerda gab Patrik die Hand. »Ich werde dafür sorgen, dass alles gleich kopiert wird.«
»Vielen Dank für Ihre Hilfe«, sagte Patrik aufrichtig. WieGerda schon gesagt hatte, klappte die Zusammenarbeit zwischen den Bezirken nicht immer reibungslos. Doch dieser Fall schien die Ausnahme von der Regel zu sein.
»Ist eigentlich bald mal Schluss mit diesem Unsinn?«
Jonna schloss die Augen. Die Stimme ihrer Mutter klang am Telefon immer so hart und vorwurfsvoll.
»Ich habe mich mit Papa unterhalten. Wir sind beide der Meinung, dass es unglaublich verantwortungslos von dir ist, deine Zeit so zu verschwenden. Außerdem müssen wir an unseren Ruf im Krankenhaus denken. Du machst nicht nur dich selbst zum Gespött der Leute, sondern auch uns!«
»Ich wusste doch, dass es was mit dem Krankenhaus zu tun hat«, murmelte Jonna.
»Was hast du gesagt? Du musst lauter sprechen, Jonna, sonst verstehe ich dich nicht. Du bist neunzehn Jahre alt, du solltest endlich lernen, dich deutlich zu artikulieren. Außerdem waren die letzten Zeitungsartikel nicht gerade angenehm für uns. Die Leute fragen sich allmählich, was wir für Eltern sind. Wir haben wirklich getan, was wir konnten. Aber Papa und ich haben eine große Verantwortung, und du bist jetzt erwachsen genug, um dafür ein bisschen Verständnis und Respekt zu zeigen. Gestern habe ich einen kleinen Jungen aus Russland mit einem schweren Herzfehler operiert. In seinem Heimatland bekam er nicht die medizinische Behandlung, die er brauchte, aber ich habe ihm geholfen. Dank meiner Hilfe wird er überleben und ein Leben in Würde führen! Ich finde, du solltest etwas mehr Achtung vor dem Leben haben, Jonna. Du hast es so gut gehabt. Haben wir dir jemals etwas abgeschlagen? Du hattest etwas anzuziehen, ein Dach über dem Kopf und genug zu essen. Denk an all die Kinder, die nicht mal die Hälfte, ach was, ein Zehntel von dem haben, was du hast. Die wären dankbar, wenn sie in deiner Haut stecken würden. Und sie würden bestimmt nicht solche Dummheiten machen wie du und sich immer diese Verletzungen zufü gen.Du bist so egoistisch, Jonna. Es wird Zeit, dass du erwachsen wirst! Papa und ich finden, dass …«
Jonna legte auf und ließ sich gegen die Wand sacken. Ihre Angst wurde immer größer, sie erfüllte jeden Teil ihres Körpers. Und sie wollte raus. Wieder übermannte Jonna das Gefühl, dass sie nirgendwohin konnte, dass es keine Zuflucht gab. Mit zitternden Händen zog sie die Rasierklinge aus ihrem Portemonnaie. Ihre Finger zitterten so unkontrolliert, dass ihr die Klinge aus der Hand fiel. Als sie sie aufheben wollte, schnitt sie sich versehentlich in die Finger. Dann setzte sie an der Innenseite ihres rechten Arms an. Hochkonzentriert verfolgte sie, wie die Klinge ihre vernarbte Haut berührte, diese Mondlandschaft aus weißem und rosafarbenem Fleisch und den roten Streifen dazwischen, die wie Flüsse aussahen. Als die ersten Tropfen Blut hervorquollen, ließ die Angst nach. Sie drückte fester auf, und das feine Rinnsal wurde zu einem pulsierenden roten Strom. Dann zog sie die Rasierklinge heraus und setzte zu einem neuen Schnitt an. Als sie den Kopf hob und direkt in die Kamera blickte, sah sie fast glücklich aus.
»Wir suchen Silvio Mancini.« Patrik zeigte der Frau an der Tür seine Polizeimarke. Sie machte einen Schritt zur Seite und rief: »Silvio! Die Polizei will was von dir.«
Ein weißhaariger Mann in Jeans und Pullover kam auf sie zu. Patrik musste sich eingestehen, dass er unbewusst einen Mann in vollem Ornat und nicht in normaler Alltagskleidung erwartet hatte. Sein logisches Denken sagte ihm zwar, dass auch ein Pfarrer nicht den ganzen Tag im Priestergewand herumlaufen konnte, aber er brauchte trotzdem einen Moment, bis er seine Vorstellungen korrigiert hatte.
»Patrik Hedström. Und das ist Martin Molin.« Der Pfarrer nickte und bat sie, auf dem Sofa Platz zu nehmen. Das Gemeindehaus war klein, aber gepflegt, und Patrik entdeckte einige Symbole, die er in seinem Laienwissen mitdem Katholizismus verband, zum Beispiel Bilder von der Jungfrau Maria und ein großes Kruzifix. Die Dame, die ihnen die Tür aufgemacht hatte, kam ins Wohnzimmer und servierte Kaffee und Kuchen. Silvio bedankte sich freundlich, doch sie lächelte nur und zog sich zurück. Dann wendete sich der Priester ihnen zu und fragte
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