Die Totgesagten
einzulesen. Im Vergleich hierzu war Big Brother die reinste Erholung gewesen. Das war ja so ätzend hier! Dabei konnte sie sich eigentlich nicht beklagen. Schließlich hatte sie frühere Staffeln gesehen und wusste, dass sie in irgendeinem Kaff wohnen und arbeiten mussten. Aber bei ICA an der Kasse sitzen! Damit hatte sie nicht gerechnet. Ihr einziger Trost war, dass Barbie ebenfalls hier gelandet war. Sie saß an der Kasse hinter Jonna, die Silikonbrüste in den roten Kittel gequetscht, und quasselte pausenlos. Den ganzen Vormittag hatte Jonna mit anhören müssen, wie alle Leute mit Barbie ein Gespräch anfingen, von der Mittvierzigerin mit der quakenden Stimme bis zum notgeilen alten Sack. Kapierten die nicht, dass man mit solchen wie Barbie nicht redete? Solche Tussen füllte man einfach ab, und dann konnte die Post abgehen. Idioten.
»Hach, wird das nett, euch im Fernsehen zu sehen. Und unser kleines Städtchen. Ich hätte nie gedacht, dass wir Tanumer mal im ganzen Land berühmt werden.« Die dämliche Kuh grinste entzückt in die Kamera über der Kasse. Dass dies eine todsichere Methode war, sich selbst zu disqualifizieren, raffte sie natürlich nicht. Blicke in die Kamera gingen gar nicht.
»Dasmacht dreihundertfünfzig fünfzig.« Jonna starrte die Frau teilnahmslos an.
»Ach ja, hier ist meine Karte.« Das mediengeile Weib zog ihre Visa-Card durchs Lesegerät. »Hoffentlich können die Zuschauer nicht die Geheimzahl lesen«, zwitscherte sie.
Jonna seufzte. Sie überlegte, ob sie jetzt schon blaumachen könnte. Normalerweise liebten Produzenten Ärger mit Vorgesetzten, aber vielleicht war es dafür noch ein bisschen zu früh. In der ersten Woche musste sie wohl oder übel die Zähne zusammenbeißen, doch dann würde sie einfach anfangen zu zicken.
Sie fragte sich, ob ihre Eltern am Montag vorm Fernseher sitzen würden. Wahrscheinlich nicht. Für solche trivialen Beschäftigungen hatten sie nichts übrig. Sie waren Ärzte, und ihre Zeit war ein wenig wertvoller als die anderer Menschen. Statt Stunden mit Reality-Soaps zu verschwenden – beziehungsweise mit ihrer Tochter –, nutzten sie sie lieber für eine Bypassoperation oder eine Nierentransplantation. Wie egoistisch von Jonna, das nicht zu verstehen. Ihr Vater hatte sie sogar zu einer Herzoperation bei einem Zehnjährigen mitgenommen. Sie sollte endlich begreifen, warum seine Tätigkeit so wichtig sei, warum ihre Eltern nicht so viel Zeit mit ihr verbringen konnten, wie sie gewollt hätten. Sie hätten nun einmal die Gabe, anderen Menschen zu helfen, und die müssten sie nutzen.
So ein Scheiß. Warum legte man sich Kinder zu, wenn man keine Zeit für sie hatte? Wieso verzichtete man nicht einfach auf Nachwuchs und wühlte stattdessen rund um die Uhr in anderer Leute Brustkorb?
Am Tag nach dem Krankenhausbesuch hatte sie mit dem Schlitzen angefangen. Ein schrecklich schönes Gefühl. Schon beim ersten Schnitt ließ die Angst nach. Es war, als würde sie aus der Wunde an ihrem Arm rinnen. Versickern mit dem Blut, das warm und rot aus ihr her aus quoll. Sie liebte den Anblick von Blut. Liebte das Ge fühl,wenn das Messer oder eine Rasierklinge, eine Büroklammer oder irgendein anderer scharfer Gegenstand, der gerade greifbar war, die Angst wegschnitt, die sich in ihrem Brustkorb festgesetzt hatte. Außerdem machte sie die Erfahrung, dass sie auf diese Weise wahrgenommen wurde. Das Blut bewirkte, dass sie sich ihr zuwendeten und sie sahen .
Leider nahm der Kick mit jedem Mal ab. Mit jeder Wunde, jeder Narbe wurde die Wirkung auf ihre Angst geringer. Und die anfängliche Besorgnis ihrer Eltern wich der Resignation. Sie gaben auf. Beschlossen, lieber die zu retten, die noch zu retten waren. Menschen mit kaputten Herzen, Krebsgeschwüren in den Gedärmen oder anderen Eingeweiden, die ausgetauscht werden mussten. Dergleichen hatte Jonna nicht zu bieten. Sie hatte nur eine verwundete Seele, und die ließ sich nicht mit dem Skalpell reparieren. Also versuchten sie es erst gar nicht.
Die einzige Liebe, die sie bekam, war die der Kameras und der Menschen, die Abend für Abend vor den Fernsehern saßen und sie ansahen. Die sie sahen .
Sie hörte einen Jungen fragen, ob er Barbies Silikonbrüste anfassen dürfe. Das Publikum würde begeistert sein. Jonna zog absichtlich ihre Ärmel hoch und entblößte ihre Narben. Sie waren das Einzige, was sie dem Ganzen entgegenzusetzen hatte.
»Martin, hast du einen Augenblick Zeit? Wir müssen etwas besprechen.«
»Na
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