Die Totgesagten
Berauschendes findet, verschwendet ihr keine weitere Zeit damit. Okay?«
»Okay.« Patrik war erleichtert.
»So,dann ab an die Arbeit.« Mellberg winkte mit der rechten Hand. Die linke steckte bereits in der untersten Schublade.
Leise schloss Sofie die Tür auf. »Hallo? Bist du zu Hause, Kerstin?«
In der Wohnung war es vollkommen still. Sie hatte an Kerstins Arbeitsplatz angerufen, doch sie hatte sich krankgemeldet. Angesichts der Umstände kein Wunder, auch Sofie war einige Tage nicht zur Schule gegangen. Aber wo steckte Kerstin? Sofie ging durch die Wohnung. Da schlug die Trauer plötzlich wie eine große Welle über ihr zusammen. Sie ließ ihren Rucksack fallen und setzte sich schluchzend daneben. Mit geschlossenen Augen versuchte sie, die Erinnerungen abzuwehren, die sie hier überfielen. Alles erinnerte an Marit. Die Vorhänge, die sie genäht hatte, das Bild, das sie bei Marits Einzug gekauft hatten, die Sofakissen, die Sofie nie aufschüttelte, wenn sie darauf gelegen hatte. Ständig hatte Marit an ihr rumgenörgelt. Aber nun war dieser ganze banale und nervige Alltagskram vorbei. Sofie hatte sich immer gegen Marit aufgelehnt, sie hatte geschrien und getobt, weil ihre Mutter Forderungen stellte und auf Regeln pochte. Trotzdem war es schön gewesen. Nach dem vielen Ehestreit hatte sich Sofie nach Stabilität und Ordnung gesehnt. Und vor allem hatte sie trotz der Auflehnung, die die Pubertät mit sich brachte, in der beruhigenden Gewissheit gelebt, dass ihre Mutter für sie da war. Ihre Mama. Marit. Nun gab es nur noch Papa.
Eine Hand auf ihrer Schulter ließ Sofie zusammenzucken.
»Kerstin? Bist du doch zu Hause?«
»Ich habe geschlafen.« Kerstin hockte sich neben Sofie.
»Wie geht es dir?«
»Oh, Kerstin.« Sofie schmiegte ihr Gesicht an Kerstins Hals. Kerstin nahm sie unbeholfen in den Arm. An so engenKörperkontakt waren die beiden nicht gewöhnt. Sofie war bereits aus dem Schmusealter heraus gewesen, als Marit bei Kerstin einzog. Doch das befremdliche Gefühl verflog schnell. Gierig sog Sofie den Geruch von Kerstins Pullover ein. Sie trug einen der Lieblingspullis ihrer Mutter, der noch immer ihr Parfüm verströmte. Bei dem Geruch musste sie nur noch mehr weinen. Der Rotz lief ihr aus der Nase, und sie zog den Kopf zurück.
»Entschuldige, ich habe dich ganz vollgeschmiert.«
»Macht nichts.« Kerstin wischte sich mit dem Daumen Sofies Tränen ab.
»Heul, so viel du willst. Der Pulli gehört deiner Mama.«
»Ich weiß.« Sofie lachte. »Sie würde mich umbringen, wenn sie diese Sauerei sehen könnte.«
»Schurwolle darf man höchstens bei dreißig Grad waschen«, deklamierten sie einstimmig und mussten prompt loslachen.
»Komm, wir setzen uns in die Küche.« Kerstin half Sofie auf. Erst jetzt bemerkte das Mädchen, dass Kerstins Wangen eingefallen und noch viel blasser als sonst waren.
»Und wie geht es dir?« Sofie war besorgt. Die Freundin ihrer Mutter hatte immer so … stabil gewirkt. Sofie bekam einen Schreck, als sie sah, wie Kerstins Hände beim Befüllen des Wasserkochers zitterten.
»Geht so.« Kerstin konnte nicht verhindern, dass ihr Tränen in die Augen stiegen. Es war erstaunlich, dass sie überhaupt noch Tränenflüssigkeit hatte, so viel wie sie in den letzten Tagen geweint hatte.
»Sofie, deine Mama und ich … Ich muss dir etwas …« Kerstin wusste nicht, wie sie es sagen sollte. Ob sie es überhaupt sagen sollte. Zu ihrer großen Verwunderung begann Sofie zu lachen.
»Liebe Kerstin, du denkst doch wohl nicht im Ernst, dass du mir über dich und Mama etwas Neues erzählst?«
»Was meinst du damit?«
»Dass ihr zusammen wart. Glaubst du etwa, ich hätte dasnicht gemerkt?« Sofie lachte. »Euer bescheuertes Versteckspiel. Jedes Mal, wenn ich kam, hat Mama ihre Sachen in das andere Zimmer geschleppt. Ihr habt heimlich Händchen gehalten. Total lächerlich. Heutzutage ist doch jeder homo oder bi, das ist doch völlig egal.«
Kerstin war baff. »Aber warum hast du nichts gesagt? Wenn du es sowieso wusstest?«
»Weil ich es witzig fand. Es war amüsant, euer albernes Theater zu beobachten.«
»Freches Gör.« Kerstin lachte herzlich. Nach all der Trauer und den Tränen der vergangenen Tage klang das Lachen in dieser Küche sehr befreiend. »Marit hätte dir den Hals umgedreht, wenn sie gewusst hätte, dass du die ganze Zeit nichts gesagt hast.«
»Ja, das hätte sie wohl.« Sofie lachte mit. »Ihr hättet euch sehen sollen. Wie ihr euch in der Küche versteckt und
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