Die Totgesagten
den Kopf, dann und wann nickte sie. Schließlich hatten sie einen Kleiderständer mit fünf verschiedenen Kleidern zusammengestellt, die Erica anprobieren sollte. Schweren Herzens betrat sie die Umkleidekabine. Dies war alles andere als ihre Lieblingsbeschäftigung. Ihren Körper aus drei Blickwinkeln gleichzeitig zu betrachten, während das unbarmherzige Licht alles ausleuchtete, was ihre Winterklamotten so gnädig verborgen hatten – allein der Gedanke ließ ihr die Haare zu Berge stehen. Und das im wahrsten Sinne des Wortes, dachte Erica, als sie feststellte, dass die eine oder andere Körperpartie mal wieder eine Rasur hätte vertragen können. Doch dafür war es nun zu spät. Vorsichtig zog sie sich das erste Kleid über den Kopf. Es war ein Etuikleid ohne Träger, und ihr wurde schon beim Hochziehen des Reißverschlusses klar, dass sie starke Nerven brauchen würde.
»Wie geht es?«, rief die Dame von draußen mit ihrer enthusiastischsten Stimme. »Brauchen Sie Hilfe mit dem Reißverschluss?«
»Ja, allerdings.« Widerwillig verließ Erica die Kabine. Sie wendete der Frau den Rücken zu, damit sie ihr das Kleid zumachen konnte, hielt die Luft an und betrachtete sich in dem großen Spiegel. Hoffnungslos, absolut hoffnungslos. Tränen schossen ihr in die Augen. Dieser Anblick hatte rein gar nichts mit ihrer Wunschvorstellung zu tun. In ihren Träumen war sie immer zauberhaft schlank und hatte feste Brüste und einen schimmernden Teint. Was ihr hier entgegenstarrte, sah eher aus wie ein weibliches Michelinmännchen. In der Taille wölbten sich die Fettpolster, ihre Haut war winterblass und schlaff. Das Oberteil des Kleids quetschte die schlaffe Haut unter den Achseln zu bizarren Fettwülsten zusammen. Es sah fürchterlich aus. Sie schluckte ihre Tränen hinunter und ging wiederin die Kabine. Irgendwie schaffte sie es, den Reißverschluss ohne fremde Hilfe zu öffnen und aus dem Kleid zu steigen. Schnell das nächste. Dieses Kleid konnte sie ganz allein anziehen. Sie öffnete den Vorhang und zeigte sich Anna und der Ladenbesitzerin. Diesmal konnte sie ihre Gefühle nicht verbergen. Im Spiegel sah sie ihre Unterlippe zittern. Tränen kullerten ihr übers Gesicht. Verärgert wischte sie sie mit dem Handrücken weg. Sie wollte hier nicht rumheulen und sich lächerlich machen, aber sie konnte nicht anders. Auch dieses Kleid saß nicht richtig. Es war, genau wie das erste, schlicht geschnitten, hatte aber einen Neckholder, der zumindest die Fettwülste in den Achselhöhlen verdeckte. Doch das größte Problem war der Bauch. Sie hatte keine Ahnung, wie sie ihre Figur bis zur Hochzeit einigermaßen in Form bringen sollte. Es war grauenhaft. Und dabei hatte sie sich ihr Leben lang auf diesen Tag gefreut: Brautkleider anprobieren, eins schöner als das andere. Die bewundernden Blicke, wenn sie mit ihrem Bräutigam zum Altar schritt. In ihren Träumen hatte sie immer wie eine Prinzessin ausgesehen. Nun flossen ihr die Tränen in Strömen über die Wangen. Anna legte ihr die Hand auf den nackten Oberarm.
»Was ist denn los, Süße?«
Erica schluchzte. »Ich, ich … bin so dick. An mir sieht alles schrecklich aus.«
»Du bist überhaupt nicht dick. Man sieht dir die Schwangerschaft noch ein bisschen an, aber das bekommen wir bis zur Hochzeit in den Griff. Du hast wunderschöne Formen. Sieh dir zum Beispiel dieses Dekolleté an. Ich hätte bei meiner Hochzeit alles darum gegeben, so ein Dekolleté zu haben!« Anna deutete auf den Spiegel, und Erica schaute widerstrebend hin. Zuerst sah sie nur ihr selbstmitleidiges, verheultes Gesicht und eine rote, geschwollene Nase. Dann schweifte ihr Blick tiefer und, ja, vielleicht hatte Anna recht. Das sah tatsächlich nach einem richtig hübschen Ausschnitt aus.
Nunmischte sich die Ladenbesitzerin ein. »Das Kleid sitzt wunderbar, Ihnen fehlt nur die richtige Unterwäsche. Wenn Sie einen Body oder ein Korsett darunter anziehen, ist das kleine Bäuchlein mit einem Schlag wie weggezaubert! Das ist doch gar nichts! Da ist mir in meinem Leben schon viel Schlimmeres untergekommen. Ihre Schwester hat vollkommen recht: Sie haben wunderschöne Kurven, es kommt nur darauf an, ein Kleid zu finden, das sie hervorhebt. Ziehen Sie das hier mal an, dann werden Sie die Sache gleich mit anderen Augen betrachten. Damit kommt Ihre Figur noch besser zur Geltung.«
Sie griff nach einem der Kleider in der Kabine und drückte es Erica aufmunternd in die Hand. Skeptisch zog Erica sich zurück und
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