Die Totgesagten
geworfen wurden. Aber wem? Ihm? Scheiße, er wusste es nicht mehr. Er kauerte sich wie ein Embryo zusammen. Presste die geballten Fäuste gegen den Mund. Wieder kamen die Worte. Beschimpfungen. Vorwürfe. Hässliche Wörter, die verletzen sollten. Wenn er sich recht entsann, hatten sie ihren Zweck auch erfüllt. Jemand hatte geweint. Sich gewehrt. Aber es hatte nichts genützt. Die Stimmen waren einfach lauter geworden. Immer lauter. Dann plötzlich ein dumpfer Schlag. Das unverkennbare Geräusch, wenn Haut auf Haut klatscht, in der Absicht, Schmerz zu verursachen. Ein gellendes, herzzerreißendes Weinen drang durch den Nebel zu ihm. Er krümmte sich noch mehr zusammen. Wollte die Bruchstücke vertreiben, die wie Flip-perkugeln zwischen seinen Schädelknochen hin und her donnerten. Doch es nützte nichts, die bruchstückhaften Erinnerungen ließen ihm keine Ruhe. Sie wollten ihm etwas sagen. An irgendetwas sollte er sich erinnern. Gleichzeitig wollte er es verdrängen. Das glaubte er jedenfalls. Alles war so verschwommen. Dann schwappte eine neue Welle der Übelkeit über ihn. Er hievte sich über die Bettkante.
Mellberg lag noch im Bett und starrte an die Decke. Dieses Gefühl, … er konnte es gar nicht genau benennen. Auf jeden Fall hatte er es schon lange nicht mehr empfunden. Vielleicht hätte man es am ehesten als Zufriedenheit bezeichnen können. Dabei konnte er eigentlich gar nicht zufrieden sein. Er war schließlich allein ins Bett gegangen und allein wieder aufgewacht. Bis jetzt hatte er sich unter einem gelungenen Abend immer etwas anderes vorge stellt.Aber seit er Rose-Marie kannte, hatten sich die Dinge verändert. Er hatte sich verändert.
Der Abend war wunderbar gewesen. Sie hatten sich so angeregt unterhalten, über Gott und die Welt. Und es interessierte ihn wirklich, was sie zu sagen hatte. Er wollte alles über sie wissen. Wo sie aufgewachsen war, wie ihre Kindheit gewesen war, was sie in ihrem Leben gemacht hatte, wovon sie träumte, was sie gern aß, welche Fernsehsendungen ihr gefielen. Alles, alles, alles. Einmal hielt er kurz inne und betrachtete ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe, wie sie lachten, sich zuprosteten und redeten. Er erkannte sich kaum wieder. Dieses Lächeln hatte er noch nie an sich gesehen, und er musste zugeben, es stand ihm gut. Wie hübsch Rose-Marie lächeln konnte, wusste er bereits.
Mellberg verschränkte die Hände hinterm Kopf und streckte sich. Die Frühlingssonne schien durch die trüben Fensterscheiben. Die Vorhänge müssten auch mal wieder gewaschen werden, stellte er fest.
Vor dem Restaurant hatten sie sich zum Abschied geküsst. Zögerlich, vorsichtig. Er hielt ganz sanft ihre Schultern fest. Das Gefühl des glatten, kühlen Stoffs an seinen Fingerkuppen und der Duft ihres Parfüms, als ihre Lippen sich berührten, waren das Erotischste, was er je erlebt hatte. Wie kam es, dass sie eine derartige Wirkung auf ihn hatte? Nach so kurzer Zeit.
Rose-Marie … Rose-Marie … Er ließ sich ihren Namen auf der Zunge zergehen. Schloss die Augen und versuchte, sich ihr Gesicht in Erinnerung zu rufen. Sie hatten vereinbart, sich bald wieder zu treffen. Er fragte sich, wie früh er sie heute anrufen durfte. Oder wirkte das vielleicht zu aufdringlich? Übereifrig? Ach, war doch egal. Mit Rose-Marie wollte er keine ausgeklügelten Spielchen treiben. Er sah auf seine Armbanduhr. Es war schließlich schon Vormittag, sie war bestimmt wach. Schon streckte er die Hand nach dem Telefon aus, aber bevor er nach dem Hörer grei fenkonnte, klingelte es. Hedströms Nummer. Das verhieß nichts Gutes.
Patrik traf gleichzeitig mit den Kriminaltechnikern am Fundort ein. Sie mussten losgefahren sein, als er sich ins Auto setzte, um Erica nach Hause zu bringen. Die Stimmung auf der Rückfahrt nach Fjällbacka war gedrückt gewesen. Erica hatte die meiste Zeit aus dem Fenster gestarrt. Nicht sauer, nur traurig und enttäuscht. Er konnte sie verstehen, er war genauso traurig und enttäuscht. In den vergangenen Monaten hatten sie so wenig Zeit für sich gehabt. Patrik konnte sich kaum erinnern, wann sie sich zuletzt in Ruhe ganz allein unterhalten hatten. Manchmal hasste er seinen Beruf. Im Grunde hatte er nie frei. Jederzeit konnte das Telefon klingeln. Die Arbeit war immer nur einen Anruf entfernt. Andererseits gab sie ihm so viel. Nicht zuletzt das befriedigende Gefühl, tatsächlich etwas zu bewirken, zumindest ab und zu. Eine Tätigkeit, bei der er den ganzen Tag nur Akten wälzen
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