Die Totgesagten
Reife, der vorher nicht da gewesen war. Kerstin wünschte, sie könnte ihr diesen erwachsenen Gesichtsausdruck wieder nehmen. Könnte ihn wegwischen, die Uhr zurückstellen und die rotzfreche Unreife wieder zurückzaubern, die Mädchen in Sofies Alter eben an den Tag legen. Aber die war für immer verschwunden. Kerstin wusste, dass sie Sofie nun auch verlieren würde. Das Mädchen wusste es zwar noch nicht und hatte die feste Absicht, an der Lebensgefährtin ihrer Mutter festzuhalten. Aber das Leben würde es nicht zulassen. Wenn sich die Trauer erst gelegt hatte, würden so viele andere Dinge interessanter sein. Freundinnen, Freunde, Partys, die Schule, alles, was dasLeben eines jungen Mädchens ausmachte. Und Ola würde es ihr schwermachen, den Kontakt zu halten. Mit der Zeit würde sich Sofie nicht mehr gegen ihn auflehnen, die Besuche würden immer seltener werden und schließlich ganz aufhören. In ein oder zwei Jahren würden sie vielleicht noch ein paar Worte wechseln, wenn sie sich auf der Straße begegneten. Aber irgendwann würden sie einfach den Blick abwenden und weitergehen. Bleiben würden nur die Erinnerungen an ein anderes Leben, Erinnerungen, die sich wie Nebelschwaden verflüchtigen würden, wenn man sie greifen wollte. Sie würde Sofie verlieren. So war es eben.
Lustlos zappte Kerstin durch die Programme. Hauptsächlich Sender, bei denen man für teures Geld anrufen und Wörter raten sollte. Unerträglich langweilig. Wie so oft in den letzten zwei Wochen wanderten ihre Gedanken zu der Frage, wer Marit etwas hatte antun wollen. Wer hatte ihr aufgelauert, nachdem sie in ihrer Verzweiflung und Wut aus dem Haus gestürmt war? Hatte sie Angst gehabt? War es schnell gegangen oder hatte es lange gedauert? Hatte es weh getan? Wusste sie, dass sie sterben würde? Sie bekam keine Antworten auf die Fragen, die ihr durch den Kopf schwirrten. Sie hatte die Berichterstattung über den Mord an der jungen Frau aus der Reality-Soap verfolgt, aber sie fühlte sich seltsam abgestumpft. Sie war randvoll mit ihrem eigenen Schmerz. Außerdem beunruhigte es sie, dass für diese Ermittlungen womöglich Kräfte von Marits Fall abgezogen wurden. Vielleicht führte die mediale Aufmerksamkeit dazu, dass die Polizei sich nur noch mit der jungen Frau beschäftigte und Marit völlig vergaß.
Kerstin setzte sich auf und griff nach dem Telefon auf dem Wohnzimmertisch. Wenn es sonst niemand tat, musste sie sich eben für Marit einsetzen. Das war sie ihr schuldig.
SeitBarbies Tod setzten sie sich einmal am Tag im Heimathof zusammen. Am Anfang hatte es Proteste gegeben. Auf grimmiges Schweigen folgten abfällige Bemerkungen, doch nachdem Fredrik ihnen erklärt hatte, dass diese Gespräche Bedingung waren, damit die Sendung nicht abgesetzt wurde, machten sie wohl oder übel mit. Eine Woche später begannen sie sogar, sich auf die Gruppenstunden mit Lars zu freuen. Er behandelte sie nicht herablassend, sondern hörte zu, fand die richtigen Worte und sprach ihre Sprache. Selbst Uffe musste zugeben, dass er Lars mochte, auch wenn er das nie laut gesagt hätte. Zwischen den Gruppensitzungen fanden Einzelgespräche statt, und auch dagegen hatte niemand mehr etwas einzuwenden. Niemand überschlug sich vor Begeisterung, aber immerhin hatte sich eine gewisse Akzeptanz eingestellt.
»Wie habt ihr die letzte Zeit erlebt? Nach allem, was passiert ist!« Lars sah sie der Reihe nach an und wartete, dass einer in der Runde das Wort ergriff. Schließlich blieb sein Blick an Mehmet hängen.
Mehmet überlegte eine Weile. »Ich fand das Chaos gut. Man ist gar nicht zum Nachdenken gekommen.«
»Nachdenken, worüber?«
»Über das, was passiert ist. Über Barbie.« Er verstummte und blickte auf seine Hände. Lars wendete sich den anderen zu.
»Findet ihr es auch gut, wenn ihr nicht nachdenken müsst? Habt ihr das Chaos ebenfalls als positiv empfunden?«
Wieder Schweigen.
»Ich nicht«, sagte Jonna düster. »Ich fand es anstrengend. Total anstrengend.«
»In welcher Hinsicht? Was war daran so anstrengend?« Lars neigte den Kopf leicht zur Seite.
»Daran zu denken, was mit ihr passiert ist. Mir die Bilder vorzustellen. Wie sie gestorben ist und so. Und wie sie in dieser … Mülltonne lag. Das ist so eklig.«
»Denkendie anderen auch an solche Dinge?« Lars’ Blick blieb an Calle hängen.
»Klar. Aber man denkt besser nicht dran. Ich meine, wozu soll das gut sein? Barbie ist doch sowieso tot.«
»Glaubst du nicht, dass es besser für dich
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