Die Totgesagten
verweigern?«
»Vielleicht sogar das Weihnachtskörbchen mit Buttertoffees und Karamellbonbons.« Martin sprach mit Grabesstimme. Patrik riss entsetzt die Augen auf.
»Nein, nicht die Buttertoffees. So fies kann sie nicht sein!«
»Doch, ich glaube schon. Lauf lieber hin und entschuldige dich.«
Patrik lachte. »Ja, mach ich.« Wieder strich er sich durch die braunen Haare.
»Mit diesem Belagerungszustand habe ich nicht gerechnet. Presse und Fernsehen spielen verrückt, diese Leute sind einfach hemmungslos. Begreifen die nicht, dass sie die Ermittlungen behindern? Unter solchen Umständen kann man doch nicht arbeiten.«
»Ich finde, wir haben diese Woche wahnsinnig viel geschafft. Wir haben alle Teilnehmer vernommen, wir haben die Tonaufnahmen von dem Abend überprüft, wir gehen jedem Hinweis aus der Bevölkerung nach. Wir haben gute Arbeit gemacht. Dass sich dieser Fall dank Raus aus Tanum etwas chaotischer gestaltet, liegt nicht an uns.«
»Kannst du begreifen, dass sie die Scheiße immer noch senden?« Patrik warf die Arme in die Luft. »Da wird eine junge Frau ermordet, und die bringen das zur besten Sendezeit im Unterhaltungsprogramm. Ganz Schweden sitzt vor der Glotze und sieht zu. Ich finde das so wahnsinnig …« Er suchte nach dem richtigen Wort. »… respektlos.«
»Natürlichhast du recht.« Martins Ton wurde schärfer. »Aber was sollen wir dagegen machen? Mellberg und dieser Idiot Erling W. Larson sind so mediengeil, dass sie gar nicht auf den Gedanken kämen, die Sache abzubrechen. Wir müssen uns damit abfinden. Und ich bin immer noch der Meinung, dass es dir und den Ermittlungen guttäte, wenn du mal abschalten würdest.«
»Ich fahre bestimmt nicht nach Hause, dafür habe ich keine Zeit. Aber wir können im Gestgifveri Mittag essen. Zählt das als Entspannung?«
»Von mir aus.« Martin stand auf. »Und wenn wir rausgehen, entschuldigst du dich gleich bei Annika.«
»Ja, Mama.« Patrik nahm seine Jacke und ging Martin hinterher. Erst jetzt fiel ihm auf, wie hungrig er war.
Rundherum klingelten die Telefone.
Sie konnte sich nicht aufraffen, zur Arbeit zu gehen. Aber das musste sie ja auch nicht, denn sie war immer noch krankgeschrieben. Der Arzt hatte sie ermahnt, es langsam angehen zu lassen. Aber sie war mit der Einstellung aufgewachsen, dass man fleißig sein musste, koste es, was es wolle. Ihr Vater hatte immer behauptet, man hätte erst dann einen triftigen Grund, nicht am Arbeitsplatz zu erscheinen, wenn man bereits auf dem Sterbebett lag. Doch genau so fühlte sie sich im Moment. Ihr Körper funktionierte, sie aß, sie wusch sich und tat alles, was nötig war. Mechanisch. Innerlich hätte sie auch tot sein können. Nichts war ihr mehr wichtig. Über nichts konnte sie sich freuen, nichts weckte ihr Interesse. Alles war kalt und tot. In ihr war nichts als Schmerz, manchmal so heftig, dass sie sich krümmte.
Zwei Wochen waren vergangen, seit die Polizei an ihre Tür geklopft hatte. Sie hatte gleich geahnt, dass dieses Klopfen ihr Leben verändern würde. Jeden Abend vorm Einschlafen lief in ihrem Kopf wieder ihr letzter Streit ab. Sie würde niemals vergessen können, dass sie ihr letztes Gesprächim Zorn geführt hatten. Kerstin wünschte, sie könnte wenigstens einige der bösen Worte zurücknehmen, die sie Marit an den Kopf geworfen hatte. Was hatte es denn überhaupt noch für eine Rolle gespielt? Warum hatte sie Marit nicht einfach in Ruhe gelassen? Weshalb war es ihr so wichtig gewesen, dass sich Marit zu ihrer Beziehung bekannte? Wieso hatte ihr das so viel bedeutet? Das Wichtigste war doch, dass sie zusammen waren. Was andere wussten, dachten oder sagten, war auf einmal so nebensächlich.
Unfähig zu jeder Art von Aktivität, legte sich Kerstin aufs Sofa und schaltete den Fernseher ein. Sie kroch unter die Wolldecke, die Marit bei einem ihrer wenigen Besuche in Norwegen gekauft hatte und die nach einer Mischung aus Wolle und Marits Parfüm roch. Kerstin vergrub ihr Gesicht in der Decke und atmete tief ein, als hoffte sie, der Geruch könne die Leere in ihrem Körper füllen. Sie bekam einige lose Fussel in die Nase und musste niesen.
Plötzlich überkam sie Sehnsucht nach Sofie. Das Mädchen hatte so viel Ähnlichkeit mit Marit – und so wenig mit Ola. Nach dem Tod ihrer Mutter hatte sie Kerstin zweimal besucht. Hatte versucht, sie zu trösten, obwohl sie selbst fast kaputtging. Sofie sah auf einmal richtig erwachsen aus. In ihrem Gesicht lag ein Zug von schmerzhafter
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