Die Tränen der Henkerin
Ratsherrn Sempach. Sonst hätte ich mich nicht wie ein Kaninchen fangen lassen, das könnt Ihr mir glauben.«
Sempach lief rot an, Schedel hob eine Hand, gebot ihm zu schweigen und wandte sich wieder Melisande zu. »Deine Augen blicken aufrecht, aber ich habe schon Mörder gesehen, die, obwohl sie auf frischer Tat ertappt wurden, glaubhaft schworen, dass sie es nicht gewesen seien. Warum hast du Sempach überfallen?«
»Er schuldet mir etwas.«
Sempach erbleichte. Melisande sah ihn prüfend an. Wusste er von Petter, dass sich ein Fremder nach seinen Geschäften erkundigt hatte? Ahnte er, wie gefährlich sie ihm werden konnte?
Schedel zog die Brauen hoch. »Wie interessant. Lass hören, was du uns zu erzählen hast, Mann aus dem Norden, aber merk dir: Ich werde dir nicht alle Würmer einzeln aus Nase ziehen. Wenn dein Bericht ins Stocken gerät, werde ich dir von Meister Ekarius auf die Sprünge helfen lassen.« Er zeigte auf den fetten Henker. »Ekarius ist ein Meister seines Fachs, glaube mir.«
Melisande zweifelte keine Sekunde daran. Sie hob an zu reden, doch Schedel wedelte mit dem Zeigefinger, also schwieg sie.
»Du bist kein Dummkopf und kein dahergelaufener Mörder«, sagte er. »Aber unterschätze uns nicht. Wir halten uns hier an das Gesetz. Und das verlangt, dass du zuerst die Instrumente vorgeführt bekommst, die dir die Zunge lösen sollen. Ekarius, zeig ihm, was ihn erwartet, wenn er lügt.«
Schedel trat zurück, der fette Henker baute sich vor Melisande auf. Sein Gesichtsausdruck war gleichgültig, nur seine Augen funkelten böse. »Sieh her!«, brummte er und hielt Melisande die glühende Zange vor die Nase. »Damit werde ich dir in den Arm kneifen, wenn du nicht die Wahrheit sprichst oder einen hohen Herrn beleidigst oder verunglimpfst.«
Melisande sah auf die Zange hinunter. Sie versuchte, nicht den Blick abzuwenden, weil man sie dann mit Gewalt dazu bringen würde, das glühende Metall in Augenschein zu nehmen.
Ekarius warf die Zange zurück in das Kohlebecken und nahm die Daumenschrauben von der Wand. »Als Nächstes werde ich dir damit so lange die Finger quetschen, bis du endlich die Wahrheit sprichst.« Die Daumenschrauben landeten wieder an der Wand, mit einem leichten Lächeln auf den Lippen deutete Ekarius auf die Streckbank. »Damit geht es weiter, und glaube mir, noch niemand hat auf der Streckbank das Maul halten können.«
Melisande würgte, so sehr biss die Angst ihr in die Eingeweide.
»Das genügt fürs Erste«, sagte Schedel, und Ekarius trat wieder zurück in seine Ecke.
Mit einem Mal hatte Melisande das Gefühl, ersticken zu müssen. Mit Mühe krächzte sie: »Wasser!«
Schedel und Langkoop tauschten einen Blick. Langkoop nickte, der Büttel gab Melisande zu trinken. Das Wasser rann kühl ihre Kehle hinunter, sie hustete, dann fühlte sie sich etwas besser. »Ich schwöre, dass ich die Wahrheit sagen werde, so wahr mir Gott helfe«, murmelte sie.
Schedel nickte ihr zu. »Dann mal los!«
»Konrad Sempach hat meinem Vater den Lohn verweigert für eine Lieferung besten Leinens. Jetzt ist mein Vater tot, und ich vollstrecke seinen letzten Willen.« Etwas Besseres war ihr auf die Schnelle nicht eingefallen, der Anblick der Folterinstrumente hatte ihr jeden klaren Gedanken geraubt.
Schedel drehte sich zu Sempach um. Der wirkte erleichtert. Ein schwaches Lächeln umspielte seine Lippen. »Keine schlechte Geschichte«, sagte er anerkennend. »Vor allem lässt sie sich nicht so leicht nachprüfen. Allerdings hast du eins nicht bedacht: Meine Familie bezieht all ihr Leinen seit Generationen von ein und demselben Händler. Das kann ich ganz einfach nachweisen.« Er sah zu Schedel und dann zu Langkoop. »Und der sitzt nicht in Hamburg. Ich denke, wir sollten jetzt die Zange benutzen. Was meint Ihr, werte Kollegen?«
Langkoop zuckte mit den Schultern, Schedel nickte. Er schien verärgert darüber zu sein, dass er sich von dem Gefangenen hatte täuschen lassen. »Ja«, sagte er. »Ich denke, wir müssen der Findung der Wahrheit etwas nachhelfen.« Er wandte sich an Ekarius, der bereits vorgetreten war. »Aber achte darauf, dass er vernehmungsfähig bleibt. Das alles ist ein seltsames Rätsel, und ich will es gelöst haben. Tot nutzt uns der Bursche nichts mehr.«
Melisande erstarrte. Wie hatte sie sich nur so dumm anstellen können? Warum war ihr nichts Glaubwürdigeres in den Sinn gekommen? Aber sie hatte ja nicht ahnen können, dass Sempach ausgerechnet beim Kauf seines
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