Die Tränen der Henkerin
der Streckbank die Glieder ordnete.« Er wandte sich an den Büttel. »Und du, du grober Klotz, wenn du noch einmal etwas machst, das dir nicht einer der Herren hier befohlen hat, dann findest du dich ganz schnell auf genau jener Streckbank wieder.«
Der Büttel senkte den Kopf. »Verzeiht.«
Melisande schöpfte Hoffnung. Die Abneigung Langkoops gegen Sempach war greifbar. Die beiden waren nie Freunde gewesen, doch seit ihrer Flucht schien sich die Kluft zwischen ihnen noch vertieft zu haben.
Sempach räusperte sich und wandte sich wieder an Melisande. Seinem Gesicht war der Ärger über die Zurechtweisung anzusehen. »Wie heißt du, Bursche?«
Melisande senkte den Kopf, versuchte ihre Stimme so tief wie möglich klingen zu lassen. »Raimund Halverson.«
»Woher kommst du?«
»Aus dem Norden.«
Sempach schnappte nach Luft, schien wieder losbrüllen zu wollen, aber im letzten Moment besann er sich und fragte geradezu freundlich: »Aus welcher Stadt im Norden?«
»Hamburg.«
Sempach grinste. »Soso. Aus Hamburg. Dann kennst du doch bestimmt den Bürgermeister Steven de Burg?«
Melisande wurde es heiß. Jetzt kam es darauf an, dass sie sich nicht in ihrem Netz aus Lügen verstrickte. Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin in Hamburg geboren, aber ich habe weit weg von der Stadt gelebt, auf einem Gutshof. Dort wurde ich …«
Sempach hieb mit der Hand in die Luft. »Schweig! Nichts als Lügen! Ich habe mich ein wenig umgehört. Du besitzt ein Pferd, das nicht aus unseren Landen stammt. Es ist ein arabisches Pferd. Man hat dich mit einem Messer in der Hand auf frischer Tat ertappt. An der Wiege meines Enkels. Gib zu: Du bist ein Assassine und hattest den Auftrag, mich und meine Familie zu töten.«
Fast hätte Melisande laut losgelacht. Was bildete sich dieses Scheusal ein? Dass sich Assassinen um ihn bemühten? Die standen im Dienste mächtiger heidnischer Könige aus dem Morgenland und töteten hochgestellte Menschen, nicht irgendwelche unnützen verwöhnten Mitglieder eines Esslinger Geschlechts. »Nein, das ist nicht wahr«, sagte sie mit fester Stimme. »Ich könnte niemals einem Kind etwas zuleide tun.« Ganz im Gegensatz zu dir, fügte sie in Gedanken hinzu.
Sempach schlug sich die Hände vors Gesicht und jammerte gekünstelt: »Hört Euch die Worte dieses Gutmenschen an!«
»Es reicht jetzt, Sempach!« Karl Schedel trat vor und blickte Melisande streng in die Augen.
Das war der Moment, die Wahrheit über Sempach zu verbreiten. Sie holte tief Luft, öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Nein, es war zu gefährlich! Den einzigen Beweis, den sie besaß, hatte sie nach Rottweil geschickt. Sie überlegte fieberhaft. Wenn sie ihr Wissen hier und jetzt preisgab, war Sempach gewarnt. Tat sie es nicht, würde sie sicherlich sehr bald hingerichtet. Sie saß in der Falle, musste Zeit gewinnen. Das war es. Sie brauchte Zeit, und sie musste eine Geschichte erfinden, die nachzuprüfen es einiger Tage bedurfte. Das Dokument durfte sie nicht erwähnen, denn Sempach würde alles daran setzen, es in die Hände zu bekommen, und dabei würde er auch vor einem Mord an Irma nicht zurückschrecken. Sie durfte ihre Freundin nicht in Gefahr bringen. Und das Dokument war ihre allerletzte Rettung, es durfte nicht verloren gehen. Sie musste die Anschuldigungen also so weit zugeben, wie sie nicht zu leugnen waren.
»Herr, ich bin kein Assassine.« Melisande erwiderte Schedels Blick. »Ihr solltet wissen, dass Assassinen ausschließlich Muselmanen sind, und auch ein Blinder würde erkennen, dass ich weder aus dem Orient stamme, noch dort längere Zeit verbracht habe, denn meine Haut ist hell wie frische Milch.«
Schedel hob die Augenbrauen. »Wer immer du bist, du hast eine geschliffene Zunge. Wenn du nicht willst, dass wir sie dir herausreißen, dann sprich die Wahrheit.«
Melisande schwitzte. Das Kohlenfeuer, in dem die Zange lag, heizte den Thronsaal auf, und der kalte Blick des Richters jagte ihr Schauder über den Rücken. Sie sah rasch zu dem Henker, der mit verschränkten Armen neben dem Feuer stand und darauf zu warten schien, dass es endlich etwas zu tun gab für ihn. »Ich hatte nicht die Absicht, dem Kind etwas anzutun, das schwöre ich«, sagte sie rasch. »Als ich den Ratsherrn Sempach überwältigt hatte, hörte ich das Kind greinen und eilte zu ihm, um zu sehen, ob ihm etwas fehle. Da sich niemand um das Geschrei zu scheren schien, nahm ich an, keiner sonst sei im Haus. Auch nicht die Gemahlin des werten
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