Die Tränen der Henkerin
Zwischenfälle. Bis Zimmern haben wir uns einem Handelszug angeschlossen, sodass wir nur noch wenige Meilen ohne Begleitung reisen mussten.« Er schlug den Blick nieder und nahm einen Schluck Wein.
Wendel war aufgefallen, dass Antonius es vermied, ihm in die Augen zu sehen. Er wusste, dass Antonius zwischen der Loyalität zu ihm und der zu seinem Herrn, Erhard Füger, hin- und hergerissen war. Es schmerzte ihn, doch er wollte sich davon nicht die Freude über den Besuch seiner Mutter verderben lassen.
Katherina erzählte Neuigkeiten aus Reutlingen, und Wendel berichtete, wie es um seine Geschäfte stand. Schließlich fragte er: »Mutter, möchtest du unseren neuen Keller sehen? Er ist erst vor ein paar Tagen fertig geworden. Ich muss ohnehin hinabsteigen und sehen, ob die Knechte ihre Arbeit ordentlich machen.«
»Aber gern!« Katherina stellte ihren Becher ab. »Und danach möchte ich meine Enkeltochter in den Arm nehmen. Bestimmt ist sie in den letzten Wochen furchtbar gewachsen!«
»Und wie!« Melissa lächelte ihr zu. »Du wirst sie kaum wiedererkennen. Sie läuft sogar schon.« Sie wandte sich an Antonius. »Nun, dann bitte ich dich um die Ehre, mich auf den Markt zu begleiten. Ich habe noch einige Besorgungen zu machen und brauche einen kräftigen Träger.«
Antonius verschluckte sich fast an der Pflaume, die er gerade in den Mund gesteckt hatte, sprang auf und verbeugte sich. »Aber gern, Herrin.« Gemeinsam verließen sie das Haus.
Wendel nahm die Hände seiner Mutter. »Wie stehen die Dinge in Reutlingen, Mutter? Hat Vater noch immer kein Einsehen?«
Katherina seufzte. »Ach, mein Junge. Erhard ist so stur wie ein Esel. Mit seinem Dickkopf könntest du die Mauern Stuttgarts einreißen, ohne dass er einen Kratzer davontragen würde. Wenn er wüsste, dass ich hier bin, würde er mich einsperren und Antonius totpeitschen, das steht fest.«
»Was hast du ihm erzählt?«
»Ich besuche meine Schwester in Tübingen. Sie ist eingeweiht und wird mich nicht verraten.«
Wendel lachte bitter. »Das ist alles so erbärmlich! Vater macht dich zur Betrügerin. Und mich behandelt er wie einen Verbrecher.«
»Er ist zutiefst verletzt. Sein Ansehen hat gelitten.«
»Niemand in Reutlingen hegt Groll gegen ihn, ja noch nicht einmal gegen mich. Engellin war enttäuscht, aber sie versteht mich; sie hat mir alles Gute gewünscht und mir zur Hochzeit mit Melissa sogar einen Glückspfennig geschenkt. Sie hat mich genauso wenig geliebt wie ich sie. Ihre Eltern haben meine Erklärung akzeptiert, dass allein ich die Schuld an der aufgelösten Verlobung trage. Und in ein oder zwei Jahren werde ich Vater das Kranzgeld zurückzahlen können, doppelt und dreifach.«
Katherina strich Wendel über die braunen Locken.
Er lächelte. »Warum hast du mir so schnell verziehen?«
»Weil ich nicht anders konnte. Eine Mutter liebt ihre Kinder ohne Bedingung. Ich bin da keine Ausnahme. Du bist mein Sohn, und ich werde dich lieben bis ans Ende meiner Tage.«
Wendel schluckte. Freude und Trauer machten sich gleichzeitig in ihm breit: Freude darüber, dass seine Mutter ihn nicht verstoßen hatte, und Trauer, weil er seinen Vater wohl für immer verloren hatte. »Geht es Vater wenigstens gut?«
Katherina traten Tränen in die Augen. »Er leidet jeden Tag. Nachts hat er furchtbare Albträume, in denen er oft nach dir ruft. Er ist rastlos, kaum noch zu Hause, ständig auf Reisen, und oft trinkt er sich in den Schlaf. Ich kenne ihn nicht mehr, das ist nicht der Mann, den ich geheiratet habe.«
Wendels Kehle schnürte sich zu. Er war schuld am Elend seiner Mutter. Aber er konnte es nicht rückgängig machen. Er liebte Melissa über alles, umso mehr, seit sie ihm Gertrud geschenkt hatte, für deren Wohl er sich jederzeit und ohne zu zögern wieder der Folter überantwortet hätte. »Es tut mir so leid«, flüsterte er.
Katherina wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Du kannst doch nichts dafür. Ich will nur, dass du glücklich bist. Und wenn Melissa dich glücklich macht, dann ist sie die Richtige.«
Er straffte die Schultern und richtete sich auf. Warum beklagte er sich? Das Schicksal hatte ihm zugestanden, was er sich gewünscht hatte. Gott hatte ihn vor der Hinrichtung bewahrt und ihm eine liebevolle und kluge Gemahlin und eine wundervolle Tochter geschenkt. Melissa war die Richtige, daran gab es nicht den geringsten Zweifel. »Du bist jederzeit hier willkommen, Mutter, das weißt du.«
»Ich weiß es, und ich danke dir und
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