Die Tränen der Henkerin
erlegen, koste es, was es wolle. Ein prächtiger Kerl, ein Zehnender. So ein Tier bekam man im Leben nur einmal vor die Lanze.
Äste peitschten Ulrich ins Gesicht, der Hirsch schlug Haken. Einen Bogenschuss voraus sah Ulrich eine Lichtung. Was für ein Glück! Seine Beute flüchtete in ihrer Panik genau dorthin, wo er sie am besten erlegen konnte. Kurz hintereinander brachen sie durch den Waldsaum. Noch einmal legte das Pferd an Geschwindigkeit zu; jetzt konnte Ulrich sich aufrichten und die Mähne loslassen. Er war nur noch wenige Ellen von seiner Beute entfernt, der gegenüberliegende Waldrand kam näher. Ulrich holte aus, wollte den Speer schleudern, doch sein Pferd bockte plötzlich und warf ihn ab.
Ulrich prallte hart auf den Boden, ein jäher Schmerz schoss durch sein linkes Bein, er schrie. Benommen richtete er sich auf. Er spürte seinen Körper kaum, tastete an seinen Beinen entlang, befühlte seine Arme. Der Schmerz ebbte bereits wieder ab, also war er nicht schwer verletzt. Er hatte nochmal Glück gehabt. Plötzlich nahm er zu seiner rechten einen Schatten wahr, der sich auf ihn zubewegte. »Was zum Teufel …!« Todesangst schoss ihm durch alle Glieder, blitzartig rollte er sich zur Seite, kam auf die Füße und hetzte in die Mitte der Lichtung. Er wusste jetzt, warum das Reittier in Panik geraten war: Keine zwanzig Schritte von ihm entfernt stand ein riesiger Bär auf seinen Hinterpfoten und brüllte aus Leibeskräften.
Ulrich stürzte los, weg von dem Tier, das ihn mit einem Hieb töten konnte. Nach wenigen Schritten stolperte er über einen Ast, verlor das Gleichgewicht und stürzte erneut. Hastig drehte er sich dem Bären zu, der sich auf alle viere fallen ließ und auf ihn zutrottete. Ulrichs Herz raste. »Weg hier! Nur weg hier!« Er wollte aufspringen, doch er knickte ein, heißer Schmerz raste durch sein linkes Bein. Erst jetzt merkte er, dass es heftig blutete. Panisch blickte er sich um. Wo blieben die anderen? Wo war sein Hauptmann? Statt seiner Männer tauchte am Waldsaum ein zweiter Bär auf, ein Jungtier. Nicht auch das noch! Also hatte er es mit einer Bärin zu tun, die ihren Nachwuchs verteidigte. Ohne Waffe war er verloren, und seine Lanze lag unerreichbar weit weg.
Ulrich starrte auf die riesige Schnauze des Tieres. Eine Narbe zog sich von der Nase über das Auge bis zur Stirn. Keine sechs Fuß von ihm entfernt richtete es sich wieder auf und kam brüllend näher. Ulrich wusste genau, was das hieß: »Geh, weg! Geh weg, oder ich töte dich.«
Aber er konnte nicht gehen, sein Bein verweigerte ihm den Dienst. Er versuchte zu kriechen, kam kaum von der Stelle, nicht weit genug, um die Bärenmutter zu beruhigen. Wieder blickte er zum Waldsaum. Noch immer keine Spur von seiner Leibgarde. Er war zu weit vorgeprescht, hatte seine Männer abgehängt. Wahrscheinlich hatten sie eine andere Richtung eingeschlagen. Ulrich stöhnte. Die Schmerzen drangen wieder in sein Bewusstsein, heftiger als vorher und raubten ihm jeden klaren Gedanken. Er warf sich zur Seite, schaffte es noch einmal, sich den tödlichen Pranken zu entziehen, dann verließen ihn die Kräfte. »Herr, sei meiner Seele gnädig«, flüsterte er. »Vergib mir meine Sünden und beschütze mein Weib und meine Söhne.«
Wieder brüllte die Bärin. Ulrich öffnete die Augen. Diesmal war es keine Drohung, sondern ein Schmerzensschrei. Ein Pfeil steckte in der Schulter des Tieres. Ulrich hörte das Sirren eines weiteren Pfeils. Gleichzeitig wandte sich die Bärin um. Der Pfeil schlug in ihren Rücken ein, Blut spritzte.
Ulrich ließ seinen Kopf erschöpft in das Moos sinken. »Herrgott, ich danke dir!«, murmelte er.
Eilige Schritte näherten sich. Ein Schatten fiel über sein Gesicht. Von Burgau. »Herr, hört Ihr mich?«
Ulrich nickte. »Mein Bein. Ich kann nicht laufen.«
Der Hauptmann tastete es ab. »Ihr habt unglaubliches Glück gehabt, Herr. Euer Pferd kam mir entgegen. Nur deshalb bin ich in diese Richtung geritten. Die Wunde ist nicht tief, und Euer Bein scheint nicht gebrochen zu sein.«
Wenig später war die Jagdgesellschaft wieder versammelt.
»Durchkämmt den Wald! Wir müssen diese Bärin finden und zur Strecke bringen«, befahl Ulrich, kaum dass er wieder auf dem Pferd saß. »Sie ist ein böses Tier, eine Menschenfresserin. Sie hätte mich nicht angreifen müssen, denn ich war keine Gefahr mehr.« Er kniff die Augen zusammen und musterte den Waldsaum. Die Bärin hatte ihr Junges dabeigehabt, und das hieß, dass
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