Die Tränen der Henkerin
ein Kind, ihn zu töten feige. Deshalb schmiedete Euer Gemahl einen Plan, um die Familie Wilhelmis in einen Hinterhalt zu locken …«
Von Säckingen ließ nichts aus. Er hatte keine Ahnung, wie viel Ohtilia bereits wusste, was de Bruce ihr erzählt und was sie sich selbst im Laufe der Zeit zusammengereimt hatte. Jedenfalls lauschte sie aufmerksam, ohne ihn ein einziges Mal zu unterbrechen. Er erzählte, dass Melisande Wilhelmis dem Blutbad offenbar als Einzige entkommen war, dass de Bruce nie aufgehört hatte, nach ihr zu suchen. Dass der Zufall es gewollt hatte, dass er selbst Jahre später auf einem Fronhof bei Urach eine Magd namens Mechthild entdeckte, die der verschwundenen Kaufmannstochter aufs Haar glich. Auch dass er dieser Magd seit zwei Jahren auf den Fersen war, ließ er nicht aus. Nur den wahren Grund für seine unermüdliche Suche verschwieg er.
Othilia wurde immer ruhiger, und als von Säckingen seine Jagd nach Mechthild erwähnte, leuchteten ihre Augen auf, als hätte er ihr das Versteck des Heiligen Grals offenbart.
»Euer Bote fing mich ausgerechnet in dem Moment ab, als ich mich vergewissern wollte, ob diese Melissa Füger in Wahrheit die Magd Mechthild ist«, endete von Säckingen. »Hätte er mir ein wenig mehr Zeit gelassen, wüsste ich nun Bescheid.«
»Sie wird mir nicht entkommen«, sagte seine Herrin ruhig.
Von Säckingen horchte auf. Othilias Wut schien nicht nur verraucht zu sein, gute Laune schien sich ihrer bemächtigt zu haben.
»Das Kruzifix, das Ihr in der Hand haltet«, sagte sie und kräuselte ihre Lippen, »es gehört Melisande Wilhelmis.«
Von Säckingen öffnete die Hand und starrte das Schmuckstück an. »Das bedeutet …«
»… dass sie und mein Gemahl sich begegnet sind. Und zwar kurz vor seinem Tod. Das Kruzifix wurde bei seinem Leichnam gefunden.«
Von Säckingen holte tief Luft. »Ihr glaubt, dass sie den Grafen getötet hat?«
»Aus dem Hinterhalt. Diese Metze ist nicht besser als ihr elender Vater, der Ottmars Sohn ermordet hat! Feiges Mörderpack!«
Von Säckingen schwieg. Genau genommen war es kein Mord gewesen, denn Gernot de Bruce hatte Konrad Wilhelmis von hinten angegriffen, woraufhin dieser mit dem Knaben kurzen Prozess gemacht hatte. Doch ob Notwehr oder nicht – es war ein dummer Fehler gewesen, den Konrad Wilhelmis mit dem eigenen Leben und dem seiner Familie hatte bezahlen müssen. Alle waren abgeschlachtet worden, nur Melisande nicht, die es anscheinend nicht nur geschafft hatte zu überleben, sondern auch, Rache zu nehmen für ihre Familie. Doch wie war ihr das gelungen?
Othilia beantwortete seine stumme Frage. »Sie hat den Henker gedungen und Ottmar die Flucht ermöglicht, um ihn dann zu ermorden.«
»Aber der Graf kniete unter dem Richtschwert. Sie hätte nur zuschauen müssen.« Von Säckingen war fassungslos. »Das Schicksal hatte ihr die Arbeit doch bereits abgenommen und ihren Todfeind dem Henker überantwortet.«
Othilia ließ triumphierend die Gerte knallen. »Ich habe also richtig vermutet: Nicht Ihr habt den Henker bestochen, von Säckingen. Ihr habt Euch mit fremden Federn geschmückt.«
Von Säckingen senkte den Kopf. »Ich hielt den Grafen für verloren. Verzeiht, Herrin …«
»Ihr seid erbärmlich, Ritter.« Sie verzog das Gesicht. »Aber Ihr werdet Gelegenheit erhalten, Eure Scharte auszuwetzen.«
»Ich verstehe immer noch nicht …«
Othilia lachte spöttisch. »Warum sie das getan hat? Weil sie keine Ruhe gefunden hätte, wenn sie ihn nicht mit eigener Hand gerichtet hätte. Sie allein konnte ihre Familie rächen, niemand sonst. Ihr solltet allmählich lernen, Euch in uns Frauen hineinzudenken. Wir können jahrelang warten, und wenn der Feind glaubt, wir hätten ihn vergessen, dann schlagen wir zu. Merkt Euch das, von Säckingen, wenn Euch Euer Leben lieb ist.«
Er neigte den Kopf noch tiefer. »Das werde ich, meine Herrin, das werde ich.« Es bereitete ihm Mühe, sich zu beherrschen. So lange hatte er nach Mechthild gesucht. Und jetzt, so kurz vor dem Ziel, drohte Othilia sie ihm wegzuschnappen. »Was gedenkt Ihr nun zu tun?«, fragte er. »Ich nehme an, dass Ihr den Kopf von Melisande Wilhelmis wollt?«
»Den Kopf? Von Säckingen, Ihr habt in der Tat nicht die geringste Ahnung, was in uns Frauen vorgeht! Glaubt Ihr wirklich, dass ich sie so einfach davonkommen lasse?«
***
»Und gib gut auf meine Mutter acht!«, rief Wendel Antonius zu. »Sieh zu, dass du sie heil zurück nach Reutlingen bringst.«
»Das werde ich,
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