Die Tränen der Henkerin
verlieren. Schließlich war ihr das ja auch in den letzten zwei Jahren recht gut gelungen.
Ein Klopfen riss sie aus ihren Gedanken. Irma schob sich zur Kammertür herein. Ihre Augen waren rot gerändert, ihr Blick traurig.
Melisande sprang auf. »Liebste Freundin, was ist geschehen?«
»Mein Onkel, es geht ihm von Stunde zu Stunde schlechter.« Sie ließ sich auf einem Schemel nieder. »Sein Bein ist schon ganz schwarz.«
Der Schmerz ihrer Freundin traf Melisande tief ins Herz. Sie kniete neben ihr nieder und ergriff ihre Hände. »Ganz schwarz, sagst du? Und eitern tut die Wunde auch?«
»Ja«, schluchzte Irma. »Ich habe solche Angst um ihn.«
»Was sagt denn der Meister Chirurgicus?«
»Er ist bei einem Patienten in Zimmern. Er kommt wohl erst spät am Abend wieder.«
Melisande streichelte Irmas Hände und sah die Freundin betroffen an. Das klang nicht gut. Die Entzündung war offenbar schon weit fortgeschritten, und so wie es sich anhörte, konnte man nur noch das Bein abnehmen, um das Leben des Onkels zu retten. Wenn sie sich das Bein doch nur einmal ansehen könnte! Vielleicht konnte sie helfen. Sie zuckte zusammen. Nein, das ging nicht! Es war zu gefährlich. Wenn die Leute erfuhren, wie viel sie von der Wundheilung verstand, würden sie Fragen stellen. Oder schlimmer noch: Irgendwelche Dummköpfe würden sie der Hexerei bezichtigen und ihr Haus anstecken. Sie hatte das alles schon einmal durchgemacht. Auch damals hatte es damit begonnen, dass sie geholfen und anderen das Leben gerettet hatte. Nein, sie konnte nichts für Irmas Onkel tun, es war unmöglich.
»Ich …« Irma senkte den Kopf und weinte bitterlich. »Ich habe solche Angst um ihn!«
Melisande erhob sich und drückte Irma an sich. Sie würde sich das Bein nur ansehen, daran war nichts Verräterisches. Vielleicht war alles halb so schlimm, und sie konnte die Freundin beruhigen. »Irma, ich habe einen besonders guten Wein«, sagte sie sanft. »Ich möchte ihn deinem Onkel bringen, das wird ihn stärken. Was meinst du?«
»Danke, Melissa, du bist so gut«, sagte Irma und zog die Nase geräuschvoll hoch.
»Dann lass uns gehen.« Melisande führte Irma in die Küche, wo Selmtraud gerade das Abendessen richtete. Gertrud saß auf einer Decke auf dem Boden und spielte mit Holzklötzen, die Wendel mit bunten Gesichtern bemalt hatte.
Melisande beugte sich über sie und küsste sie auf den Kopf. »Ich werde dich niemals in Gefahr bringen«, murmelte sie in das samtweiche Haar. Gertrud gluckste vergnügt und schlug zwei Klötze aneinander.
»Eine kleine Musikantin haben wir hier!«, lachte Selmtraud. »Vielleicht solltet Ihr ihr ein Päuklein schenken.«
»Das fehlte gerade noch«, gab Melisande zurück. »Dann trommelt sie das ganze Haus zusammen. Außerdem soll sie etwas Anständiges lernen. Lesen und Schreiben!« Sie richtete sich auf und holte einen Krug mit einfachem Rotwein aus der Speisekammer, den sie mit ein wenig Zimt und Thymian versetzte. »Ich bringe Irma nach Hause, Selmtraud«, sagte sie. »Ich bleibe nicht lange fort.«
Sie nahm ihre Freundin an der Hand und zog sie aus dem Haus. Wenig später standen sie vor dem Haus des Onkels in der Nähe des Unteren Auentores. Eine Magd führte sie in die Schlafkammer.
Meister Egidius lag schweißüberströmt im Bett. Er stöhnte vor Schmerzen, und sein Atem ging schnell und röchelnd. Irmas Mutter kniete an seiner Seite, hielt seine Hand und weinte leise. Der Raum stank nach Eiter und Fäulnis, ein Geruch, den Melisande nur zu gut kannte, dennoch musste sie schlucken, um die aufsteigende Übelkeit zu verdrängen.
»Seid gegrüßt, Meister Egidius«, sagte sie freundlich. »Ich bringe Euch einen kräftigenden Wein.« Sie stellte den Krug ab. Dann hob sie behutsam die Bettdecke hoch. Erschrocken hielt sie die Luft an. Der Unterschenkel war von schwarzer, toter Haut überzogen, und aus einer klaffenden Wunde sickerte weißgelbe Flüssigkeit. Was als kleine Verletzung begonnen hatte, drohte nun den ganzen Mann zu töten.
Melisande deckte das Bein wieder ab und betrachtete das schweißnasse Gesicht des Kranken. Bis der Chirurgicus zurückkehrte, konnte Meister Egidius tot sein. Das Bein musste sofort abgenommen werden, und sie konnte es tun. Schließlich hatte sie als Henkerin des Öfteren Gliedmaßen amputieren müssen. Sie ballte die Fäuste. Wenn sie es tat, brachte sie sich und ihre ganze Familie in Gefahr. Gertruds weiches goldfarbenes Haar kam ihr in den Sinn. Es liegt nicht in deiner
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