Die Tränen der Henkerin
Verantwortung, beschwor sie sich. Der Meister Chirurgicus wird das Richtige tun, wenn er zurück ist. Wenn Gott diesen Mann retten möchte, wird er ihn am Leben lassen, bis der Arzt ihm helfen kann.
Sie berührte leicht die Schulter ihrer Freundin und wandte sich ab. Leise verließ sie das Haus.
***
Erhard Fügers Kopf glühte vor Zorn. Er nahm eine Handvoll Erde und schleuderte sie Antonius ins Gesicht. »Du hast mich verraten!«, brüllte er.
Antonius sah ihn fassungslos an. Wie konnte sein Herr das von ihm denken? Nach all den Jahren unverbrüchlicher Treue? Empörung stieg in ihm hoch. »Was sagt Ihr da, Herr?«, rief er. »Warum sollte ich so etwas tun?«
»Warum?« Erhard Füger trat einen Schritt auf Antonius zu. »Ich sage dir, warum: Weil diese Metze auch dich verhext hat. Weil du ihr hörig bist. Deshalb.« Er legte die Hand an sein Schwert.
Antonius taumelte zurück und hob die Arme. »Ihr seid ja vollkommen wahnsinnig geworden! Wollt Ihr mein Blut? Nehmt es Euch. Es ist wahrlich kein Wunder, dass Euer Sohn nicht mehr nach Hause kommen will.« Sofort bereute er, was er gesagt hatte. Wenn der Herr von solcher Wut gepackt war, tat man nicht gut daran, ihn noch weiter zu provozieren. Doch die ungeheure Unterstellung hatte ihn verletzt. Wie konnte der Herr nur glauben, er hätte sich von der Metze betören lassen, wo sie es doch gewesen war, die ihm Wendel weggenommen hatte?
»Gut, Bursche, wie du willst.« Erhard Füger zog blank, stieß einen Schrei aus und stürzte sich auf Antonius, der einen Ausfallschritt zur Seite machte, um dem Hieb zu entgehen. Erhard Füger lief ins Leere, stolperte über eine Wurzel, sein Schwert flog durch die Luft, während er selbst auf dem Bauch landete. Sofort rappelte er sich hoch und drehte sich zu Antonius um. Einen Wimpernschlag lang zögerte er, dann stürzte er sich auf ihn, diesmal mit bloßen Händen.
Gut so, dachte Antonius, lasst Eure Wut an mir aus! Wenn Ihr Euch ausgetobt habt, beginnt Euer Verstand wieder zu arbeiten.
Erhard Füger schlug mit den Fäusten auf ihn ein. »Na warte, du treuloser Halunke! Dir werde ich zeigen, was ich mit Verrätern mache!«
»Herr! So nehmt doch Vernunft an!« Antonius gab ordentlich zurück, jedoch nicht allzu fest. Er hätte den älteren, schlecht trainierten Mann leicht zu Boden werfen können, doch er wollte ihn nicht demütigen.
Eine Weile rangen sie, Schweiß und Staub mischten sich auf ihrer Haut zu einem klebrigen grauen Brei. Immer schwerer ging Erhards Atem, doch es dauerte noch eine ganze Weile, bis er keuchend von Antonius abließ. Wankend blieb er stehen.
Antonius schaute zu Boden. War das das Ende? Musste er sich jetzt einen neuen Herrn suchen? Vielleicht gar bei einem Söldnertrupp anheuern? Schnell verwarf er den Gedanken. Nein, er würde versuchen, bei einem angesehenen Grafen in der Leibwache unterzukommen. Es kümmerte ihn nicht, einen Angreifer unschädlich zu machen, aber mordend und brandschatzend durch die Gegend zu ziehen, wie viele Söldner es taten, das war erbärmlich.
Endlich kam Bewegung in Erhard Fügers Glieder. Er hob sein Schwert auf und schob es in die Scheide, stolzierte wortlos an Antonius vorbei und nahm sein Pferd beim Zügel. Ohne sich umzublicken, brach er sich einen Weg zurück durchs Unterholz, und kurz darauf hörte Antonius, wie er davonpreschte.
Antonius schüttelte den Kopf. Was zum Teufel war mit seinem Herrn los? Jeder Narr musste doch begreifen, dass er es nicht nötig gehabt hätte, über das Versteck auch nur ein Wort fallen zu lassen. Warum also sollte er erst davon erzählen, um dann Melissa zu warnen? Er schüttelte den Kopf und ließ sich auf einem Baumstumpf nieder. Ameisen wimmelten zu seinen Füßen umher, schleppten unablässig Blätter, Holzschnitzel und erbeutete Insekten vorbei. Nachdenklich legte Antonius einen Zweig quer über den Ameisenpfad; sofort wurde er untersucht und sodann als ungefährlich liegen gelassen. Egal, wie groß die Last war, die die einzelnen Ameisen mit sich schleppten, sie überwanden das Hindernis scheinbar mühelos.
So stark wie eine Ameise müsste ich sein, dachte Antonius, dann bräuchte ich keinen Feind zu fürchten. Er stand auf und streckte sich. Was für eine seltsame Welt! In seinem ganzen Leben hatte er sich noch nichts zuschulden kommen lassen, das gegen Gottes Gesetz oder die Gesetze Württembergs verstieß, und doch beschuldigte sein Herr ihn, ein Verräter zu sein. Was sollte er jetzt tun? Seinem Herrn folgen? Würde
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