Die Tränen der Henkerin
Melissa verraten, und damit auch Wendel. Was, wenn in dem Versteck etwas lag, dass den jungen Herrn ebenso sehr belastete wie sein Weib? Wenn Melissa gar nicht für sich, sondern für Wendel etwas versteckt hatte? Wenn in diesem dunklen Loch etwas lag, gegen das die Auflösung der Verlobung nichts war als ein dummer Bubenstreich?
***
»Diese Nacht ist so schwarz wie die Sünde! Wollt Ihr uns in den Tod schicken, Anführer?« Der kleine dicke Söldner reckte das Kinn vor.
Leopold von Steyer baute sich vor ihm auf. »Du hast die Wahl: Entweder du reitest mit uns, oder du stirbst von meiner Hand. Und wenn du dich aus dem Staub machst, bist du fortan vogelfrei und stirbst früher oder später durch eine andere Hand. Der Befehl unserer Herrin duldet keinen Widerspruch.«
»Aber die Herrin hat diesen Ritt gar nicht befohlen. Wir sollen Erhard Füger folgen wie ein Schatten, so lautet der Befehl der Gräfin!«
Aus den Augenwinkeln sah von Steyer, dass die anderen Söldner betreten zu Boden blickten. Die Lage war in der Tat vertrackt, denn der aufmüpfige Söldner hatte recht, was den Befehl der Herrin anging. »Lasst Erhard Füger nicht aus den Augen«, hatte sie gesagt. »Ich will über jeden seiner Schritte unterrichtet werden.« So lautete sein Auftrag. Doch nun hatten sie etwas erfahren, das unverzügliches Handeln erforderte: Sie hatten mitgehört, wie der alte Füger seinem Leibwächter ein Geheimnis entlockt hatte, das die Herrin brennend interessieren dürfte. Leider hatten sie nicht genug Zeit, auf der Adlerburg Bericht zu erstatten und neue Befehle abzuwarten. Sie mussten sofort handeln. Noch diese Nacht. Sie mussten vor Erhard Füger in Rottweil sein und das Versteck im Wald in Augenschein nehmen. Othilia würde es so wollen, da war er ganz sicher. Er straffte die Schultern. Und davon abgesehen durfte er es nicht dulden, dass einer seiner Untergebenen seine Autorität so offen infrage stellte. »Die Herrin ist nicht hier, und in ihrer Abwesenheit hast du mir zu gehorchen!« Er legte die Hand an den Schwertknauf.
Der widerspenstige Söldner stemmte die Hände in die Hüften. »Ihr verlangt, dass ich mich den Befehlen der Gräfin widersetze?«
»Im Gegenteil. Mir gehorchen heißt der Gräfin gehorchen.« Von Steyer zog das Schwert ein Stück aus der Scheide, gerade so weit, dass die Klinge im Licht der Fackeln bedrohlich funkelte. Hoffentlich lenkte dieser Tölpel endlich ein! So ein unsinniger Zweikampf schwächte nicht nur seine Stellung, er würde sie zudem unnötig aufhalten.
Der Söldner schaute verunsichert seine Kameraden an. Keiner sprang ihm bei.
»Als du dein Kreuz unter den Vertrag gesetzt hast, hast du damit erklärt, deiner Herrin und ihren Vertretern zu gehorchen«, sagte von Steyer. »Du hast dich verpflichtet, meinen Befehlen Folge zu leisten. Du darfst dich nicht widersetzen. Wenn du es trotzdem versuchen möchtest, nur zu!« Von Steyer trat noch näher an den Söldner heran. »Entscheide dich! Jetzt!«
Der Söldner hob langsam die Arme. »Schon gut, schon gut. Mir soll es egal sein, Ihr müsst letztlich bei der Gräfin Euren Kopf für diese Eigenmächtigkeit hinhalten. Was geht es mich an?«
Wenig später stiegen die Männer auf, entzündeten Fackeln und ließen ihre Pferde antraben. Langsam fiel die Anspannung von von Steyer ab. Doch nur um einer neuen Sorge Platz zu machen: Hoffentlich fanden sie das Versteck, und hoffentlich enthielt es etwas, das seine eigenmächtige Entscheidung vor der Gräfin rechtfertigte. Wenn es ihm gelang, Othilia ein ganz besonderes Präsent zu überreichen, etwas, womit sie ihre Widersacherin vernichten konnte, half das vielleicht dabei, ihre Gunst zu gewinnen und diesen Gecken Eberhard von Säckingen auszustechen.
***
Noch bevor der Hahn krähte, erhob Antonius sich von seinem Lager. Er hatte kaum Schlaf gefunden und sich die ganze Nacht auf seinem Strohsack hin- und hergewälzt. Wenn er nur mit seiner Enthüllung kein Unheil heraufbeschworen hatte! Unruhig machte er sich an die Reisevorbereitungen. Im Haus war noch alles still. Am Abend hatte er die Herrin laut sprechen hören, sie schien verärgert zu sein, doch er hatte ihre Worte nicht verstanden. Hatte der alte Füger sie in seine Pläne eingeweiht? War sie deshalb erbost? Oder hatte sie am Ende darauf bestanden, mitzukommen? Nein, das wohl kaum. Vermutlich hatten die Eheleute sich einer ganz anderen Sache wegen gestritten. In letzter Zeit fiel öfter einmal ein harsches Wort, der Herr war noch
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