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Die Tränen der Henkerin

Die Tränen der Henkerin

Titel: Die Tränen der Henkerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Martin
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Erhard Füger seine Anklage wiederholen? Würde die Herrin sich für ihn einsetzen? Bisher hatte sie es immer getan. Sollte er nach Rottweil gehen, Wendel bitten, ihn in seine Dienste zu nehmen? Oder sollte er das Weite suchen und ganz neu anfangen? Drei Möglichkeiten, eine zu viel, um eine Münze zu werfen.
    »Die Ameisen sollen entscheiden!«, rief er, nahm einen anderen Zweig, suchte eine breite Ameisenstraße und legte ihn abermals quer in den Weg. Liefen sie rechts vorbei, würde er nach Rottweil gehen, nahmen sie den Weg links an dem Zweig vorbei, hieß es nach Reutlingen zurückkehren. Überquerten sie den Zweig in der Mitte, würde er sein Glück bei einem neuen Herrn versuchen.
    Verwirrt blieben die Ameisen stehen. Eine von ihnen tastete sich an dem Ast entlang. Nach links. Die anderen folgten. Antonius blickte kurz zum Himmel hinauf, dann wieder auf die Ameisen. Die Entscheidung war gefallen.
    »Na gut, wenn ihr meint, dass ich nach Reutlingen zurückmuss, dann gehe ich nach Reutlingen.« Seufzend griff er nach dem Zügel und führte seine Stute zurück durch das Unterholz. Es dämmerte bereits. Er musste sich beeilen, um seinen Herrn einzuholen, denn ohne Begleitung war der alte Füger für Straßenräuber eine leichte Beute.
***
    »Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist, wie im Anfang, so auch jetzt und alle Zeit und in Ewigkeit. Amen.« Melisande kniete vor dem kleinen Altar der Hochturmkapelle. Irmas Onkel war dem Tod geweiht, wenn ihm nicht rasch geholfen wurde. War es nicht ein christliches Gebot, zu helfen, wo sie konnte? Aber war sie nicht ebenso angehalten, ihre Familie zu schützen? Ihre kleine Gertrud mit dem glatten, rosigen Kindergesicht, dem fröhlichen Lachen, der duftenden Haut … Plötzlich schob sich ein anderes Gesicht vor ihr inneres Auge: das Gesicht ihrer kleinen Schwester, die ebenfalls Gertrud geheißen hatte und die gestorben war, weil sie sie nicht hatte beschützen können. Nein, ihre Tochter sollte nicht das gleiche Schicksal ereilen! Niemals.
    Melisande schaute zum Kreuz empor. Gott hatte ihr in der Not immer zur Seite gestanden und seine schützende Hand über sie gehalten. Und er hatte ihr die wunderbare Gabe des Heilens geschenkt. War das ihr Dank? Dass sie einen braven Christen leiden und vielleicht sogar sterben ließ? »Herr Jesus Christus, gib mir die Kraft, das Richtige zu tun«, wisperte sie immer wieder, bis sie schließlich eine Entscheidung traf. »Herr, ich lege mein Schicksal in deine Hände.« Sie erhob sich und trat festen Schrittes aus der Kapelle. Hoffentlich war es noch nicht zu spät!
    Melisande eilte nach Hause. Die Küche war leer, doch sie hörte Selmtraud im oberen Stockwerk singen und Gertruds freudiges Glucksen. Mit geübtem Griff bereitete sie eine Heilpaste zu, dann packte sie einige Werkzeuge in einen Beutel und lief zu Egidius’ Haus. Als sie in die Gasse bog, überkam sie das seltsame Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Dann hörte sie es, ein lautes Weinen und Klagen. Nein! Das durfte nicht sein.
    Sie klopfte an, und eine Magd mit rotgeweinten Augen öffnete ihr. »Oh!«, rief sie überrascht, als sie Melisande sah. »Ihr seid es. Ich dachte, es wäre der Priester.«
    »Meister Egidius?«, fragte Melisande mit belegter Stimme.
    »Er ist vor wenigen Augenblicken von uns gegangen.«
    Melisande krallte ihre Hand in die Türfassung, um sich abzustützen, ihre Beine zitterten. »Er ist tot?«, flüsterte sie ungläubig. »Aber – aber vor einer Stunde …«
    »Es war mit einem Mal ganz schnell vorbei. Sein Atem ging schneller und schneller. Plötzlich erstarrte er, als sähe er etwas, das ihn erschreckt. Er murmelte etwas von einem hellen Licht, und dann war es ausgestanden.« Die Magd bekreuzigte sich. »Wollt Ihr nicht eintreten, Herrin? Die arme Irma kann Euren Trost sicherlich gut gebrauchen. Ihr seid doch ihre beste Freundin.«
    »Nein«, stammelte Melisande. »Ich … ich kann nicht. Nicht jetzt. Sag ihr … sag ihr, dass ich für ihren Onkel eine Kerze entzünden werde.« Sie löste die Hand von der Türfassung und wandte sich ab. Meister Egidius war tot. Tot, weil sie gezögert hatte, ihm zu helfen.
    Hinter ihr schlug die Magd die Tür zu. Melisande machte ein paar wankende Schritte in die Gasse. Es war still bis auf das Klagen, das dumpf aus dem Haus des Meisters drang. »Herr, vergib mir«, flüsterte sie. Tränen liefen ihr über das Gesicht. »Vergib mir, dass ich nicht auf dich vertraut und diesen braven alten Mann habe

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