Die Tränen der Henkerin
launischer als früher und die Herrin längst nicht so gehorsam wie andere Frauen. Sie war zwar sanftmütig und gütig, aber sie hatte ihren eigenen Kopf.
Als sein Herr im Morgengrauen zu den Stallungen kam, hatte Antonius bereits die Pferde gesattelt, Wasser, Wein und Proviant verstaut. Erhard Füger grüßte ihn voll grimmiger Entschlossenheit und saß sogleich auf. Einer der Knechte erschien mit müden Augen bei der Hintertür, und Erhard rief: »Denk daran, Bursche, gleich als Erstes zur Sommerhalde zu laufen und dem dortigen Huser meine Nachricht zu überbringen. Und dann gehst du meiner Frau zur Hand, die im Weinkeller nach dem Rechten sehen will. Einige Gestelle für die Fässer sind morsch; bevor die Lese beginnt, muss alles hergerichtet sein.«
»Ja, Herr.«
»Ich komme morgen Abend zurück, so Gott will. Ich möchte keine Klagen hören.«
»Ja, Herr.«
Ohne ein weiteres Wort ritt Erhard Füger durch das Hoftor auf die Gasse. Antonius folgte ihm, und schon bald erreichten sie das Obere Tor. Es war gerade erst geöffnet worden, und die ersten Bauern und Händler drängten in die Stadt. Ängstlich wichen sie den beiden Reitern aus, die, kaum dass sie auf der Landstraße waren, den Pferden die Sporen gaben.
Als die Sonne aufging, waren Antonius und sein Herr schon drei Meilen von Reutlingen entfernt. Sie machten nur wenige, kurze Pausen, und mit jeder Elle, die sie Rottweil näher kamen, schien Erhard es eiliger zu haben. Er trieb sein Pferd an, verlangte ihm alles ab. Sie passierten das Dorf Schömberg, von hier war es nur noch eine knappe halbe Meile.
Wenn nur die sechs auffälligen Tannen nicht gefällt worden waren! Unruhig schaute Antonius sich um. Die bewaldete Bergkuppe! Dort war der Weg, den er genommen hatte, um Melissas Pfad nicht zu kreuzen. Auf einmal spürte auch Antonius das Jagdfieber; die Müdigkeit, die ihn während des ganzen Tages wieder und wieder überfallen hatte, war wie weggeblasen. Was auch immer sie in dieser Grube finden würden – er musste sich ihm stellen.
Antonius richtete sich im Sattel auf, um besser sehen zu können. Da standen sie, die sechs Bäume. Selbst jetzt, da er aus der entgegengesetzten Richtung kam, sahen sie aus wie eine Familie, die sich an den Händen hielt. »Hier ist es!«, rief er. »Von hier aus müssen wir zu Fuß weiter.«
»Dann sitzen wir ab«, entschied der alte Füger und sprang vom Pferd.
Antonius tat es ihm gleich, und gemeinsam führten sie die Pferde am Zügel in den Wald hinein. Antonius stieß erleichtert die Luft aus. Auch die Lichtung sah noch so aus wie vor zwei Jahren: Da war der Fels, der an eine große Schale erinnerte, da waren die Brombeerranken, die um ihn herum wucherten. Dann jedoch erstarrte er: Frische, feuchte Erde türmte sich neben dem Felsklotz zu einem kleinen Hügel auf.
»Nein!« Erhard Füger stieß einen Wutschrei aus und stürzte auf die Stelle zu.
Antonius folgte ihm langsam. Er hatte es nicht eilig, denn er ahnte, was ihn erwartete. Mit einem Ziehen im Magen trat er neben seinen Herrn und warf einen Blick in das frisch ausgehobene Loch.
Die Grube war leer.
***
Melisande rieb sich die Augen. Es war ein langer Tag gewesen und sicherlich besser, die Arbeit für heute zu beenden. Wendel wäre erbost, wenn er herausfand, dass sie den ganzen Nachmittag in der Schreibkammer gesessen und über Dokumenten gebrütet hatte. Glücklicherweise war er ausgeritten. Er suchte nach geeigneten Hängen, hatte er sich doch in den Kopf gesetzt, eigenen Wein anzubauen, wie er es in Reutlingen getan hatte.
Melisande schob die Pergamentrollen zur Seite, verschloss das Tintenfass und deckte die Rechnungen, Lieferlisten und Briefe mit einem Leinentuch ab. In den letzten Stunden war es ihr gelungen, nicht ein einziges Mal an Eberhard von Säckingen zu denken, und das war gut so. Je weiter der schreckliche Augenblick am Neckarufer in die Vergangenheit rückte, desto blasser wurde das Bild des Ritters in ihrem Kopf. Inzwischen war sie beinahe sicher, dass sie sich getäuscht hatte. Seit der Augsburger vor fast zwei Wochen mit Wendel gesprochen und ihr in Erinnerung gerufen hatte, wie schnell ihr Gebäude aus Lügen und Täuschung zusammenbrechen konnte, hatte sie überall Gefahr gesehen, auch dort, wo keine drohte. Sie musste wieder zur Ruhe kommen. Es war alles in Ordnung, zumindest so weit es in Ordnung sein konnte. Ganz sicher würde sie nie sein. Sie musste endlich lernen, mit einem Rest Gefahr zu leben, ohne darüber den Verstand zu
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