Die Tränen der Henkerin
antwortete Wendel, während er seinen Surcot überstreifte. »Er kennt nicht nur alle Gesetze auswendig, sondern auch die Schliche der Württemberger, des Rates und der Geschlechter. Seine Reden sind überzeugend, sein Leumund ist tadellos.«
»Und du? Hast du nicht dieselben Tugenden?« Melissa schlang von hinten die Arme um Wendels Taille.
Er legte seine Hände auf ihre. »Melissa Füger! Du hast einen einzigen Fehler. Und das ist deine Ungeduld.«
Sie zwickte ihn in den Bauch. »Du bist der Beste. Darum geht es.«
»Aber du weißt doch, dass ich gar nicht gewählt werden kann. Erst muss ich fünf Jahre Mitglied der Zunft gewesen sein. In dieser Zeit darf ich mir nichts zuschulden kommen lassen, und mein Leumund muss blütenrein sein.«
»Und dein einziger Fehler ist, dass du zu geduldig bist.«
Wendel grinste. »Da hast du allerdings Recht. Und bei meinem Weib werde ich anfangen, das zu ändern.« Er machte sich los, drehte sich um, schlang einen Arm um ihre Taille und begann, sie mit der anderen Hand zu kitzeln.
Sie schrie auf, prustete vor Lachen, krümmte sich, versuchte ihm zu entkommen, aber er hielt sie eisern fest und warf sich mit ihr aufs Bett, wo sie beide atemlos liegen blieben. Seufzend erhob Wendel sich wieder und fuhr fort, sich anzukleiden. »Ich muss den Knechten sagen, was sie zu tun haben, sonst machen sie sich einen faulen Tag, während ihr Herr im Zunfthaus ist.«
»Das machen sie bestimmt nicht«, sagte Melissa und griff nach ihrem Gewand. Dafür sorge ich schon.«
»Ich weiß.« Wendel lächelte sie an. »Ich weiß. Du hast die Mägde und Knechte gut im Griff. Gerade so, als hättest du schon einmal ein Geschäft mit einer Schar Bediensteter leiten müssen.«
Melissas Augen verschleierten sich einen Moment, so als hätte sich eine winzige Wolke vor die Sonne geschoben. Dann trat sie zu ihm, nahm seinen Kopf und schaute ihm tief in die Augen. »Wendel Füger. Eins darfst du nie vergessen: Ich liebe dich und Gertrud von ganzem Herzen. Was auch geschehen mag, daran wird nichts etwas ändern.«
Er nahm ihre Hände von seinem Gesicht und küsste sie. »Ich liebe dich auch, Melissa. Und nichts und niemand kann diese Liebe erschüttern.«
***
»Mein lieber Burkhard, endlich seid Ihr wieder im Lande.« Graf Ulrich winkte Burkhard von Melchingen zu sich, der sich, wie es sich gehörte, tief vor seinem Herrn verneigt hatte. Ulrich nahm ihn in die Arme und drückte ihn. Von Melchingen war tatsächlich abgemagert wie eine Kuh im Winter. Er ließ ihn los, trat einen Schritt zurück und musterte den weit Gereisten von Kopf bis Fuß. »Jesus, Maria und Josef, Ihr seid ja nur noch Haut und Knochen!«
»In der Tat, meine Reise hat mich nicht nur um einen anständigen Batzen Gold erleichtert, sondern auch um einige Batzen Fett«, erwiderte von Melchingen mit einem Lächeln.
Ulrich klatschte in die Hände. »Nun, dann werdet Ihr sicherlich nichts gegen eine kleine Zwischenmahlzeit haben?«
Von Melchingen deutete eine Verbeugung an.
Auf Ulrichs Wink strömten Diener in den Saal des Uracher Schlosses, Tische wurden aufgebaut, und ein Mahl aufgetragen, das einer Krönungsfeier würdig gewesen wäre. Bald türmten sich gebratene Fasane, Wachteln in Feigensoße und in Honig und Mandeln gebackene Karpfen auf silbernen Tabletts und wetteiferten mit süßen Früchten und rubinrotem Wein. Als auch die übrigen Ritter der Burg und die Hofdamen hereinkamen und Platz nahmen, nickte von Melchingen anerkennend. »Gibt es einen Grund zum Feiern, mein werter Graf? Ihr habt das doch nicht alles nur aufgefahren, weil Euer alter Freund heil von seiner Pilgerreise heimgekehrt ist?«
»Aber natürlich gibt es etwas zu feiern. Abgesehen von Eurer Rückkehr. Ihr seid zu bescheiden, Burkhard.«
»Ich verstehe nicht …«
Ulrich hob seinen Pokal. »Ich trinke auf den Bezwinger des Grafen der Adlerburg, Burkhard von Melchingen!«
Alle im Saal applaudierten, nur von Melchingen blickte verwirrt, beinahe mürrisch in die Runde, so als hätte man ihn verspottet.
Ulrich musterte ihn verwundert. Sein Gast war nicht nur abgemagert, er war braun gebrannt, seine Haut wirkte ledrig. Sein Haar, das bei seiner Abreise nur von einigen wenigen grauen Strähnen durchzogen gewesen war, war nun fast vollständig ergraut. Doch von Melchingens Augen blickten wachsam und klar wie eh und je. Es gab also keinen Grund, an seinem Erinnerungsvermögen zu zweifeln. Oder gar an seinem Verstand. Ulrich legte die Stirn in Falten. Irgendetwas
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