Die Tränen der Henkerin
Tage Zeit.«
Ergeben nickte Ekarius. »Es wird nicht einfach sein, wenn es wieder ein Mädchen sein soll, das keiner vermisst, doch ich werde mein Bestes geben. Erst gestern erhielt ich einen Hinweis, wo ein solches Mädchen zu finden sein könnte. Dem werde ich unverzüglich nachgehen.«
»Gut, gut«, erwiderte Sempach ungeduldig. »War das alles?«
»Jetzt, wo Ihr es erwähnt, Herr …«
»Was?« Sempach juckte es in den Fäusten.
»Es könnte sein, dass etwas über die geheime Kammer durchgesickert ist. Es gibt Gerüchte.«
Sempach starrte ihn an. »Durchgesickert? Gerüchte? Wie konnte das geschehen?«
Der Henker hob die Schultern. »Eine der Huren vielleicht. Die haben ihre Augen und Ohren überall. Und sie plaudern mit den Kunden, es gehört zum Geschäft.«
Sempach atmete tief durch. Darum musste er sich kümmern, und zwar unverzüglich. Allerdings nicht heute Abend. Der Anblick der Kammer hatte seine Lust so gesteigert, dass er fürchtete, seine Lenden könnten platzen. Er brauchte dringend Erleichterung. So schnell wie möglich. »Ich kläre das und kümmere mich um einen besseren Ort«, sagte er kurz angebunden. »Und jetzt bring mir die jüngste Hure, die du im Angebot hast, und wehe sie ist krank oder unwillig!«
***
Wendel öffnete die Augen und lauschte. Außer den ruhigen Atemzügen seiner Gattin war nichts zu hören. Sonst war es meistens Melissa, die schlecht schlief und von Albträumen gequält wurde, doch seit einigen Tagen war es umgekehrt. Melissa schlief wie eine Tote, ihn aber suchten immer wieder Bilder aus der Vergangenheit heim. Gerade hatte er sich noch im Kerker von Esslingen gesehen, unfähig sich zu bewegen. Ein Schrei hatte ihn geweckt, aber im Haus und auf den Gassen war es ruhig. Vielleicht hatte er den Schrei geträumt. Vielleicht hatte eine Katze geschrien, er vermochte es nicht zu sagen.
Melissa rührte sich nicht. Er blieb liegen und betrachtete sie im fahlen Licht, das durch die Läden sickerte. Die erste Stunde des Tages mochte angebrochen sein, bald würden die Glocken zur Laudes läuten. Gestern war ein Bote aus Reutlingen gekommen und hatte angekündigt, dass seine Mutter und Antonius ihn besuchen würden. Zehn Tage, nachdem sie abgereist waren! Ob sie Nachricht von seinem Vater brachten? War dieser endlich bereit, sich zu versöhnen? Aber würde er dann nicht gleich mit den beiden reisen? Wie gerne würde Wendel endlich Frieden mit ihm schließen; die Aussöhnung mit dem Vater war das Einzige, das ihm zu seinem Glück fehlte.
Sanft streichelte er Melissa über den Kopf. Wie schön sie war. Wie stark und voller Liebe und Leidenschaft. Hoffentlich behielt sie Recht damit, dass sie empfangen hatte. Und hoffentlich war es ein Sohn. Er liebte Gertrud über alles, sie war sein ganzer Stolz. Dennoch blieb sie ein Mädchen, irgendwann würde sie zur Frau heranreifen, würde ihr Elternhaus verlassen, um einen Mann zu heiraten und Teil von dessen Familie zu werden. So wie Melissa jetzt eine Füger war und zu seiner Familie gehörte. Sein Sohn aber würde sein Nachfolger sein, er würde mit seiner Familie hier bei ihnen leben. Wendel strich Melissa eine Haarsträhne aus der Stirn. Er würde seinem Sohn eine gute Frau aussuchen, die Melissa zur Hand gehen würde, ohne ihre Herrschaft über den Haushalt infrage zu stellen.
Wendel lächelte. Was hatte er da gerade überlegt? Er wollte seinem Sohn eine Frau suchen? Seinem Sohn, von dem er noch nicht einmal wusste, ob er überhaupt schon gezeugt war?
Als die ersten Glocken läuteten, reckte und streckte sich Melissa, öffnete die Augen und lächelte ihn an. »Guten Morgen, Liebster«, flüsterte sie und kuschelte sich an seine Brust.
Wendel überkam wieder dieses Gefühl grenzenloser Liebe, das ihn schwindeln machte. Nichts konnte diese Liebe erschüttern. Absolut nichts. Er zeichnete mit den Fingerspitzen die Konturen ihres Gesichts nach. »Guten Morgen, Liebste.« Sanft löste er sich aus ihrer Umarmung, küsste sie und schlüpfte aus dem Bett. Aus der Küche war bereits Klappern zu hören, und, wenn er sich nicht täuschte, auch das fröhliche Geplapper von Gertrud. »Ich muss mich beeilen«, sagte er. »Zur dritten Stunde beginnt die Zusammenkunft, gleich nach der Frühmesse. Alle werden da sein, wenn wir einen neuen Zunftmeister wählen.«
Melissa knurrte unwillig, gab sich aber ihrem Schicksal hin und stand ebenfalls auf. »Wer wird es werden?«
»Ich denke, die Mehrheit wird für Eugenius den Älteren stimmen«,
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