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Die Tränen der Henkerin

Die Tränen der Henkerin

Titel: Die Tränen der Henkerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Martin
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stets fröhliche Freundin würde den Ernst der Lage womöglich nicht begreifen. Aber ihre Befürchtungen hatten sich nicht bewahrheitet. »Ich danke dir, liebste Freundin. Und ich bitte dich, mir regelmäßig Nachricht zu schicken, mir durch einen zuverlässigen Boten mitzuteilen, was in der Stadt geschieht, was man über mich erzählt.«
    Irma nickte. »Das werde ich. Sollen wir etwas vereinbaren, eine Losung, ein Wort, damit der Bote weiß, dass er die Nachricht der richtigen Person übergibt?«
    Melisande überlegte kurz. »Raimund«, sagte sie.
    »Raimund. In Ordnung. Du kannst dich auf mich verlassen.«
    Melisande umarmte Irma.
    Irma drückte sie fest. »Kann ich sonst noch etwas für dich tun?«
    Melisande wischte die Tränen fort, die ihr schon wieder über die Wangen liefen. »Hab ein Auge auf Gertrud«, bat sie. »Lass mich wissen, ob es ihr gutgeht.«
    »Das werde ich.« Irma küsste sie auf die Stirn. »Ich werde auf sie achtgeben, als wäre sie mein eigenes Kind.«
***
    Wendel kniete vor dem Altar, bis seine Beine taub waren. Melissas Worte hallten in seinen Ohren wider. Erinnerungen suchten ihn heim: an den Henker von Esslingen, den Kerker, die furchtbaren Schmerzen, die er an diesem Ort erlitten hatte.
    Gertrud greinte leise vor sich hin. »Meine Kleine!« Er presste sie an sich, wiegte sie und sang ihr leise ein Lied vor.
    Ich hörte auf der Heide
    Helle Stimmen und süßen Gesang
    Sofort beruhigte sie sich und patschte mit ihren Händen in sein Gesicht. Wundervolle Gertrud! Ein Stich fuhr ihm durch die Brust. Warum hatte Melissa ihm das angetan? Warum hatte sie all diese furchtbaren Dinge getan? Sie hatte nicht das Recht gehabt, ihn so zu belügen, ihm die anständige Ehefrau vorzuspielen, während sie in Wahrheit eine ganz andere war. Sie hatte Menschen gefoltert und getötet, und sie schien es nicht einmal zu bereuen. Als sie ihm davon erzählt hatte, hatte ihre Stimme gefasst geklungen, ja beinahe stolz.
    Er stöhnte auf und presste Gertrud an sich, die nun leise vor sich hinplapperte. Armes Ding! Was sollte er ihr erzählen, wenn sie ihn nach ihrer Mutter fragte? Am liebsten wäre er aufgesprungen und losgerannt, nach Hause gestürmt, um Melissa aufzuhalten, um ihr zu sagen, dass es nicht wichtig war, wer sie in der Vergangenheit gewesen war, dass nur zählte, wer sie jetzt war. Doch er vermochte es nicht. Die Erinnerungen an den Esslinger Kerker lähmten ihm die Glieder. Der Gestank, die Angst, der Schmerz. Wie konnte er das Bett mit dem Menschen teilen, der ihm so viel Leid zugefügt hatte?
    Wieder begann Gertrud, leise zu wimmern, und ihm wurde klar, dass sie hungrig sein musste. Schwerfällig erhob er sich. Seine Beine waren gefühllos und kalt, er konnte kaum gerade stehen. Vorsichtig machte ein paar Schritte und trat dann vor die Kapelle. Er musste sich zusammenreißen, konnte sich nicht einfach in ein Loch verkriechen, auch wenn er es nur zu gern getan hätte. Schließlich trug er Verantwortung – für Gertrud, für seine Mägde und Knechte, für das Geschäft. Er musste durchhalten, stark sein. Er würde nach Hause zurückkehren und sein Leben selbst in die Hand nehmen. Vielleicht war Melissa ja noch nicht fort. Vielleicht war es noch nicht zu spät.
    Er stockte. Was war er doch für ein Tor! Er hatte Melissa damit gedroht, die Büttel zu rufen. Sie wäre lebensmüde, wenn sie unter diesen Umständen nicht unverzüglich das Weite gesucht hätte. Aber vielleicht hatte sie ihm eine Nachricht hinterlassen, ihm geschrieben, wohin sie gegangen war. Er lief schneller und rannte los, als er sein Haus erblickte.
    Atemlos stieß er die Tür auf, Melissas Namen auf den Lippen, doch es war seine Mutter, die ihm entgegentrat. Tiefe Falten zeichneten sich auf ihrer Stirn ab. »Wo wart ihr denn?«, rief sie. »Wir haben uns schon Sorgen gemacht. Ich habe Antonius losgeschickt, euch zu suchen.« Sie stutzte. »Wo ist Melissa?«
    »Fort«, erwiderte Wendel tonlos. Er trat ein und schloss die Tür. »Selmtraud!«
    Schritte polterten die Treppe hinunter. »Ich bin hier, Herr. Ist Gertrud wohlauf?«
    Wendel küsste seine Tochter und überreichte sie der Magd. Wie gut, dass sie noch so klein war und nichts mitbekam. »Bring sie nach oben, kümmere dich um sie. Ich glaube, sie hat Hunger. Gib ihr etwas Brei, und dann leg sie in die Wiege. Wenn das erledigt ist, komm herunter. Deine Herrin ist nicht da, und es gibt viel zu tun.«
    Selmtraud senkte leicht den Kopf; es schien, als wollte sie etwas fragen, aber

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