Die Tränen der Henkerin
sie drehte sich um und eilte die Treppe wieder hinauf.
Als sie fort war, schaute Wendel sich um. Von dem Henkersgewand fehlte jede Spur. »Sind alle zurück und wieder bei der Arbeit?«, fragte er seine Mutter.
Katherina nickte. »Ja. Walburg und Berbelin sind im Kräutergarten, die Knechte im Weinkeller, du wolltest doch, dass sie ein neues Gestell für die Fässer bauen. Sie sind mit einem Haufen Bauholz und Werkzeug nach unten verschwunden.« Sie trat näher, sah ihm in die Augen. »Wo ist Melissa?«
»Fort. Das sagte ich doch bereits.« Wendel biss sich auf die Lippe. Was sollte er seiner Mutter sagen? Wie konnte er ihr erklären, was er selbst nicht begriff?
Katherina wollte etwas erwidern, doch in dem Augenblick öffnete sich die Tür, und Antonius trat ein. »Ah, da seid Ihr ja, Herr«, murmelte er. In seinen Augen lag Argwohn. »Eure Mutter hat sich um Euch gesorgt.«
»Zu Recht, fürchte ich«, sagte Katherina mit schneidender Stimme. »Wendel, willst du mir endlich verraten, was los ist?«
Wendel warf einen raschen Blick zu Antonius. Der begriff und eilte zur Hintertür. »Ich schaue nach, ob in den Ställen alles in Ordnung ist«, sagte er.
»Nein!«, rief Wendel.
Antonius erstarrte und drehte sich überrascht um.
»Ich möchte, dass du es ebenfalls hörst.«
Antonius kam langsam zurück. »Wie Ihr wünscht, Herr.«
Wendel räusperte sich. »Ich habe Melissa fortgeschickt.«
Katherina schrie auf und schlug die Hand vor den Mund, Antonius nickte grimmig.
»Ich kann und will euch im Augenblick nicht mehr dazu sagen, und ich bitte euch, meinen Wunsch zu respektieren. Wenn euch jemand fragt, sagt ihr, sie besucht Verwandte. Mehr braucht niemand zu wissen.«
Katherina trat langsam auf Wendel zu. »Wenn du glaubst, dass ich mich damit zufriedengebe, täuschst du dich! Ihr habt euch gestritten. Ist es nicht so?«
Wendel ließ sich auf die Bank sinken, auf der er vorhin noch mit Melissa gesessen hatte, und vergrub sein Gesicht in den Händen. »Bitte, Mutter, ich kann jetzt nicht …«
Katherina setzte sich ihm gegenüber. »Oh doch, mein Sohn, du musst! Du kannst unangenehme Dinge nicht aus der Welt schaffen, indem du so tust, als seien sie nicht da. Wendel Füger! Sieh mich an, und sprich mit mir! Was ist geschehen?«
Wendel nahm die Hände vom Gesicht und sah seine Mutter an. Vielleicht war es tatsächlich besser, wenn sie und Antonius die Wahrheit erfuhren. Einen Teil der Wahrheit zumindest. Nur so würden sie seine Entscheidung verstehen und ihn nicht ständig mit Fragen quälen. »Melissa ist nicht die, für die sie sich ausgegeben hat«, sagte er leise.
Antonius schnappte hörbar nach Luft.
Wendel warf ihm einen raschen Blick zu, bevor er weitersprach. »Ihr wahrer Name ist Melisande Wilhelmis. Sie stammt aus Esslingen.« Er ballte die Fäuste. »Sie hat mich von Anfang an belogen.«
Katherina hatte sich nicht gerührt. »Und das ist alles?«
»Reicht das nicht?«, gab Wendel zurück. »Sie hat mich belogen und lächerlich gemacht.« Er sprang auf. »Und jetzt habe ich zu tun. Wenn ihr mich entschuldigt.«
»Herr, wartet!« Antonius stellte sich ihm in den Weg. Wendel hätte ihn am liebsten geohrfeigt.
»Ich muss Euch etwas sagen, Herr. Etwas Wichtiges, es geht um Leben und Tod. Bitte hört mir zu!«
Wendel atmete tief ein und aus. Er bezweifelte, dass Antonius ihm irgendetwas über Melissa sagen konnte, das schlimmer war als das, was er bereits wusste. Trotzdem wollte er es nicht hören. »Ich habe keine Zeit«, erwiderte er.
»Wendel!« Seine Mutter hatte sich ebenfalls erhoben. »Du wirst dir anhören, was er zu sagen hat. Und ich möchte es ebenfalls erfahren.« Sie sah Antonius auffordernd an.
Antonius zögerte.
»Nun rede schon«, sagte Wendel mit einem Schulterzucken. »Heute kann mich nichts mehr erschüttern.«
»Ihr müsst wissen, dass Euer Vater Euch liebt und Euch nichts Böses will«, begann Antonius.
Wendel verschränkte die Arme. Er war sich ganz und gar nicht sicher, ob das so war. Auch wenn sein Vater in Bezug auf Melissa richtig gelegen hatte und er ihm im Stillen für seine Sturheit Abbitte leisten musste.
Antonius sprach weiter. »Er hat ebenfalls etwas über Melissa herausgefunden. Es ist furchtbar, aber es ist wahr: Sie kommt nicht aus Augsburg, und sie hat auch keinen Zwillingsbruder.«
»Das wissen wir bereits«, unterbrach ihn Katherina. »Wendel sagte doch, dass sie aus Esslingen stammt.« Sie runzelte die Stirn. »Ich habe den Namen Wilhelmis schon
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