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Die Tränen der Henkerin

Die Tränen der Henkerin

Titel: Die Tränen der Henkerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Martin
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dass er eines in dem ganzen Wirrwarr völlig vergessen hatte: Es musste noch jemanden geben, der die Wahrheit kannte, denjenigen, der ihnen das Henkersgewand geschickt hatte. Und wer immer es war – er war ihnen bestimmt nicht wohlgesinnt.
***
    Schon nach wenigen Meilen wurde der Schmerz beinahe unerträglich. Melisande vermisste Gertrud, und je weiter der Wagenzug sie von Rottweil wegführte, desto schlimmer wurde es. Sie vermisste auch Wendel. Sein Lachen, seine Unbekümmertheit, seine Lebensfreude, die sie immer wieder daran erinnert hatte, wie glücklich sie sich schätzen konnte. Nichts war von ihrem Glück geblieben. Wie der Fronhof bei Hülben war alles zu Asche verbrannt.
    Sie hatte sich vor dem Flöttlinstor einem zufällig vorbeireisenden Händlerzug angeschlossen, der über Oberndorf und Sulz nach Straßburg unterwegs war. Der Zugführer hatte erst gezögert, da eine mitreisende Frau im Ernstfall eher eine zusätzliche Last als eine Hilfe bei der Verteidigung gegen Straßenräuber war, doch für ein paar Pfennige hatte er ihr schließlich doch gestattet, auf einem der Wagen bis Sulz mitzureisen.
    Nun saß sie auf dem ruckelnden Gefährt und versuchte zu begreifen, was eigentlich geschehen war. Von einem Augenblick zum anderen lag ihr ganzes Leben in Scherben, und irgendwo da draußen lauerte ein Feind, dessen Gesicht sie nicht kannte. Je mehr sie darüber nachdachte, desto sicherer war sie, dass Antonius an den Geschehnissen beteiligt war. Nur er konnte das Versteck kennen und wissen, wer die Sachen dort vergraben hatte. Doch er war zweifellos nicht gewitzt genug, einen solchen Plan allein zu ersinnen und auszuführen. Antonius war lediglich der Handlanger, ihr wahrer Gegner war jemand anderes. Welcher Mann würde auf solch eine Weise vorgehen? Erhard Füger? Eberhard von Säckingen? Irgendjemand aus Esslingen, der die Wahrheit über sie wusste und noch ein Hühnchen mit dem stummen Melchior zu rupfen hatte? Sie hatte eine Menge Feinde, aber keinem traute sie eine solch perfide List zu. Was geschehen war, trug die Handschrift einer Frau. Doch welche Frau sollte sie so sehr hassen?
    Melisande seufzte. Da sie Rottweil hatte verlassen müssen, war sie nun nicht einmal mehr in der Lage, Antonius auf den Zahn zu fühlen. Obwohl er seit seinem Geständnis vor drei Tagen wie ausgewechselt gewesen war, hatte sie das Gefühl gehabt, dass er sie beobachtete. Inzwischen war ihr klar, dass seine Freundlichkeit lediglich ein Befehl seines Auftraggebers gewesen sein musste. Bestimmt führten ihn seine ständigen Ausritte zum Unterschlupf seines Herrn. Warum hatte sie nicht früher daran gedacht, ihn beschatten zu lassen? Jetzt war es dafür zu spät. Immerhin konnte sie bei Antonius sicher sein, dass Wendel und Gertrud nichts geschehen würde, denn Antonius vergötterte seinen jungen Herrn nach wie vor und würde sicherlich alles tun, um ihn zu schützen. Und sich selbst würde sie zu verteidigen wissen.
    Der Wagen ruckelte. Melisande schwankte und stieß sich den Kopf. Wie damals … Auch an jenem Tag hatte der Wagen geruckelt, bis er plötzlich stehen geblieben war. Dann hatte ein Pfeilregen eingesetzt, die Schwertkämpfer waren aus dem Unterholz hervorgebrochen und hatten alle niedergemetzelt. Die Schreie. All das Blut … Niemand außer ihr selbst war mit dem Leben davongekommen. Nicht einmal das Kind, das ihre Mutter unter dem Herzen getragen hatte – de Bruce hatte es ihr aus dem Leib geschnitten und wie alle anderen ermordet.
    Unwillkürlich legte Melisande ihre Hände auf den Bauch. Mehr als sieben Jahre waren vergangen, und nun war sie es, die schwanger auf einem Wagen saß und einem ungewissen Schicksal entgegenreiste. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn sie damals nicht überlebt hätte. Nein! So durfte sie nicht denken. Sie hatte Gertrud und Wendel – und ihren kleinen Jungen, den sie unter dem Herzen trug. Ihre Familie. Sie würde nicht aufgeben. Wer auch immer ihr Gegner war – sie würde ihn stellen und besiegen. Und dann würde sie dafür beten, dass Wendel ihr verzieh und sie einen neuen Anfang wagen konnten.
    Es dämmerte bereits, als der Zug am Stadttor von Sulz zum Stillstand kam. Während die Kaufleute den Zoll entrichteten, machte Melisande sich zu Fuß auf den Weg zur Herberge. Das Gasthaus »Zum Lamm« hatte einer ihrer Weinlieferanten kürzlich als saubere, gut geführte Unterkunft erwähnt. Melisande hoffte, dass auf seine Empfehlung Verlass war. Sie fragte eine Magd, die ihr mit einem

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