Die Tränen der Maori-Göttin - Lark, S: Tränen der Maori-Göttin
vorbei?«
Atamarie wusste, dass sie sich mit der Frage Blöße gab, aber wenn Richard jetzt schon in Christchurch war, wollte sie ihn auch sehen! Schlimm genug, dass er sich bei ihr nicht gemeldet hatte.
Dobbins nickte. »Sicher, Miss Turei«, meinte er, und es klang wieder etwas widerstrebend. »Ich habe ihm gesagt … äh … er will … er wird Sie nachher abholen. Ein bisschen mit Ihnen feiern.«
Atamarie strahlte, und tatsächlich erwartete Richard sie dann am Tor der Hochschule. Er begrüßte sie zwar nur miteinem Kuss auf die Wange, aber das war in aller Öffentlichkeit auch sicher besser. Und er freute sich erkennbar über ihre Anteilnahme, lud sie zum Essen ein und hielt nach zwei Flaschen Wein auch wieder ihre Hand, als er sie nach Hause brachte. Das Patent auf das Fahrrad imponierte ihm allerdings wenig, er sprach den ganzen Abend nur über sein neuestes ehrgeiziges Projekt: ein Flugzeug.
»Und kein Segelgleiter, Atamarie, ein Propellerflugzeug. Es muss …«
»Es muss auch ohne Wind gehen!«, lachte Atamarie. »Habe ich schon immer gesagt. Einfach- oder Doppeldecker?«
Sie diskutierten noch über die Vor- und Nachteile, als sie am Avon entlang zu Atamaries Wohnung schlenderten. Atamarie war vollkommen glücklich – oder jedenfalls fast vollkommen. Andere Pärchen, denen sie begegneten, taten schließlich mehr als nur Händchenhalten. Die Männer legten die Arme um die Mädchen, und die Mädchen schmiegten sich an die Körper der Männer. Atamarie schob sich näher an Richard, der die Anregung auch sofort verstand. Er zog sie an sich, während er von Antriebsenergien redete und der Größe des Propellers.
»Fünfundzwanzig Pferdestärken. Ich denke an fünfundzwanzig Pferdestärken. Meinst du, das ist genug? Oder ist es übertrieben? Nicht dass die Maschine außer Kontrolle gerät …« Etwas ratlos verhielt Richard vor Atamaries Haus.
Atamarie legte ihm die Arme um den Hals. »Ein bisschen außer Kontrolle ist gar nicht so schlecht«, meinte sie, sah zu ihm auf und öffnete die Lippen.
Richard Pearse zögerte kurz, aber dann küsste er sie. Und Atamarie tanzte anschließend die Treppen hinauf. Er liebte sie! Natürlich liebte er sie. Und es war sehr rücksichtsvoll, sie nicht mit in sein Hotel zu nehmen. In der kleinen Familienpension wäre das aufgefallen! Zu peinlich, wenn man sie beim Hineinschleichen erwischt hätte.
Obwohl … nein, daran dachte sie besser nicht! Atamarie kontrollierte ihren in jeder Hinsicht sehr erfinderischen Geist. Sie gestand sich nicht ein, dass Richard vielleicht Gründe gehabt hatte, sie nicht um diese Nacht zu bitten.
Aber nun, da die Universität für den Sommer geschlossen hatte, reichte es ihr. Atamarie war entschlossen, ihren Freund zu besuchen. Von Christchurch nach Timaru gab es eine Eisenbahnverbindung, und von Timaru aus würde sie schon irgendwie weiterkommen. Bis zu Richards Farm bei Temuka waren es von der Bahnstation aus etwa dreizehn oder vierzehn Meilen. Bestimmt fand sich eine Mitfahrgelegenheit. Natürlich hätte Richard sie auch abholen können – Atamarie überlegte, ihm zu schreiben. Aber womöglich fand er dann Ausflüchte, wie etwa die Sache mit der Anstandsdame. Wie es aussah, lebte Richard allein auf seiner Farm, Atamarie würde sich also kompromittieren, wenn sie ihn besuchte, erst recht über Nacht. Der jungen Frau selbst war das allerdings egal – in Bezug auf ihre Sexualität sah sie sich als Maori und hielt sich nur an die Moralvorstellungen der pakeha , um nicht anzuecken. In Christchurch hätte sie sich folglich in der Öffentlichkeit zurückgehalten, aber auf einer einsamen Farm im ländlichen Distrikt Waitohi würde sie machen, was sie wollte. Atamarie freute sich auf die Zweisamkeit – und sie war überzeugt, dass Richard das genauso sah, wenn er seine Hemmungen erst mal überwunden hatte. Diesmal würde niemand sie stören, wenn sie ihre Liebe endlich lebten!
Atamarie stieg also in Christchurch in den Zug nach Dunedin – Timaru lag auf dem Weg, sie würde von dort aus gleich zu ihren Großeltern weiterfahren können. Es war ein ungewöhnlich klarer Tag, und die schneebedeckten Südalpengipfel schienen so nah, dass man sie greifen konnte. Atamarie machte sich allerdings keine Illusionen. Zwischen der Bahnlinie undden Bergen lagen Meilen um Meilen Grasland, die Weiten der Canterbury Plains. Jetzt, im Sommer, stand das Tussock-Gras hier kniehoch, und es wogte im Wind wie ein grünbraunes Meer. Atamarie dachte an ihre
Weitere Kostenlose Bücher