Die Tränen der Maori-Göttin - Lark, S: Tränen der Maori-Göttin
Robbie? Hängt es mit einem Mann zusammen?«
Violet war in jungen Jahren vergewaltigt worden, aber die Angst davor steckte ihr bis heute in den Knochen. Sie konnte sich noch so oft sagen, dass Roberta in Dunedin ziemlich sicher war, dass die Straßen belebt waren und die Gesellschaft, in der sich Roberta bewegte, über jeden Zweifel erhaben. Aber trotzdem nahm sie immer wieder das Schlimmste an und hasste es,wenn ihre Tochter allein unterwegs war, wie in der vergangenen Nacht.
»Mir ist gar nichts geschehen, Mommy«, wiederholte Roberta. »Allenfalls ist mir was … hab ich was …«
»Gesehen, Roberta? Hat sich dir ein Mann unsittlich genähert? Es gibt Kerle, die Freude daran finden, sich Frauen zu zeigen … also … hm … nackt. Man nennt sie …« Violet durchforstete das Lexikon in ihrem Kopf.
Roberta lächelte. »Mommy, mir ist auch kein Exhibitionist begegnet. Es geht mir wirklich gut, Mommy, ich will zwei Tage früher nach Christchurch. Rosie wird sich bestimmt freuen.«
Violet kam ein anderer Gedanke. »Und der junge Mann, den du in Südafrika kennengelernt hast? Geht es um ihn? Roberta, es ist mir gar nicht so recht, wenn du ohne Begleitung … Wir kennen ihn nicht mal.«
Roberta sah ihre Mutter nachsichtig an. »Ihr lernt ihn ja am Wochenende kennen. Nun hör auf, mich inquisitorisch zu befragen, Mommy. Es geht mir gut. Und ich bin auch früher schon allein nach Christchurch gereist, wie du weißt. Niemand wird mich fressen, am allerwenigstens Vincent Taylor.«
Violet seufzte, gab aber so schnell nicht auf. »Was wird er denn sagen, Roberta, wenn du zwei Tage zu früh kommst? Das sieht doch aus, als wolltest du dich ihm an den Hals werfen.«
Roberta griff sich an die Stirn. »Ich besuche doch erst meine Freundin«, wiederholte sie die Lüge und hatte dann endlich den rettenden Einfall. »Sie … sie hat ein Problem, weißt du, das hat sie mir geschrieben, und ich hab drüber nachgedacht, und ich glaube … ich glaube, sie braucht wirklich Beistand. Sie ist doch Lehrerin, aber sie hat sich mit einem Mann eingelassen, und jetzt ist sie …«
»Schwanger?« Violet blickte mitfühlend. Roberta atmete auf, ihre Mutter schien den Köder zu schlucken. »Ach, das arme Ding! Aber das gehört ja auch dringend abgeschafft, dieses Zölibat für weibliche Lehrkräfte! Ein Lehrer darf jederzeit heiraten, aber eine junge Frau soll leben wie eine Nonne. Robbie, schick deine Freundin ins Büro der Women’s Christian Temperance Union. Vielleicht findet sich da eine Arbeit für sie. In der Kinderbetreuung für arme Familien zum Beispiel. Bestimmt.«
Roberta nickte und tat, als lausche sie aufmerksam auf Violets diverse Hilfsangebote für ihre nicht existierende Freundin. Sie hasste es, ihre Mutter zu belügen, aber manche Schwindeleien machten das Leben einfach leichter. Sie bemühte sich sehr, bei dieser Überlegung nicht an Kevin und Juliet zu denken …
Violet rief ihrer Tochter schließlich persönlich eine Droschke und ließ sie zum Zug bringen – aber als Roberta glücklich darin saß, regten sich in ihr Zweifel an ihrem Tun. Ihre Mutter hatte Recht, auch in Addington würden sie es befremdlich finden, wenn sie zwei Tage zu früh erschien. Und natürlich konnte sie nicht auf Vincent zurennen, sich für ihre Ausreden der letzten Wochen entschuldigen und ihm dann die Ehe antragen! Das Beste wäre wirklich gewesen, bis zum Wochenende zu warten, Vincent freundlich zu begrüßen und sich von Anfang an so offen zu geben, dass es ihm Mut machte. Seine letzten Briefe hatten nach einem Ultimatum geklungen, also würde er sie sicher auf eine Verlobung ansprechen. Dann konnte sie ganz förmlich annehmen und ihre Wankelmütigkeit darauf schieben, dass sie ihren Beruf ungern aufgeben wollte. Es war dann seine Sache, ob er ihr glaubte. Er hatte schließlich mehrmals angedeutet, dass er ihre Schwärmerei für Kevin zumindest erahnte. Später würden sie vielleicht sogar darüber reden können – das Letzte, was Roberta wollte, war ein Geheimnis vor ihrem Mann. Aber jetzt war keine Zeit für solche Geständnisse. Vincent sollte nicht annehmen, dass er die zweite Wahl war.
Aber was machte sie nun mit den zwei unplanmäßigen Tagen in Christchurch? In einem Hotelzimmer vor sich hin grübeln?
Roberta hatte die rettende Idee, als der Schaffner Timaru als nächsten Halt ankündigte. War dies nicht der Ort, in dessen Nähe Richard Pearse lebte? Was, wenn sie hier ausstieg und ein paar Nachforschungen
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