Die Tränen der Massai
er.
Die Hyänen heulten erschrocken auf. Die Schakale rannten davon. Geier flatterten hoch. Der männliche Löwe fuhr herum und sah, wie Kireko auf seine Beute zurannte. Im gleichen Augenblick griff die Löwin Shokeri an.
Kireko sprang über einen verkrüppelten Busch am Rand der Lichtung und warf seinen Speer nach der Löwin. Die Waffe flog eine Spur zu hoch und prallte von ihrem Schulterblatt ab. Die Löwin hatte sich auf Shokeri gestürzt, der mit seinem Schild zu langsam gewesen war. Ein rascher Schlag mit der massiven Tatze riss die rechte Seite des jungen
Morani
auf. Sein Speerarm sank in einem grausamen Winkel zur Seite.
Der Löwe griff Kireko über die Lichtung hinweg an. Noah, der die Reaktion des Männchens gespürt hatte, stand auf und warf seinen Speer. Er traf den Löwen im Sprung, durchdrang die weiche Flanke, die wegen des ausgestreckten Hinterbeins ungeschützt war. Der Löwe fauchte zornig und stolperte, aber der Schwung von fünfhundert Pfund trieb ihn weiter, warf ihn gegen Kireko und riss beide zu Boden. Tier und Krieger verschwanden in einer Staubwolke. Kireko griff unter dem Löwen, der wieder auf die Beine kam, nach dem
Simi
und zog es. Er spürte die sinnliche Begegnung von Stahl und Muskeln, spürte, wie er dem Löwen das Schwert in die Seite stieß. Der Löwe keuchte laut, als der Stahl durch Lunge und Herz drang, und brach auf Kireko zusammen wie ein gefällter Baum. Sein Kopf lag im Staub neben ihm, und seine große rosa Zunge sackte aus dem gewaltigen Maul und zuckte in einem Schaum aus Speichel und Blut. Kireko starrte die Zunge einen Moment an, aber es waren die Augen – gelbgrün hinter flatternden Lidern –, die sein Herz höher schlagen ließen. Einen kurzen Augenblick fürchtete er, dass der Löwe noch nicht tot war.
»Shokeri!«
Noahs Schrei riss Kireko sofort in die Gegenwart zurück. Die Löwin! Sie schüttelte Shokeri wie ein Schakal einen Fleischfetzen. Kireko schob den Löwen von sich herunter und begann, über die Lichtung zu stolpern.
Noah warf seine kurze, schwere Keule nach der Löwin und traf sie am Ohr. Sie schrie, ließ Shokeri auf den blutigen Boden fallen und lief dann den Kamm hinauf. Noah warf mit einem zornigen Schrei sein
Simi
nach ihr. Es fiel scheppernd von den Felsen herunter. Noah ließ sich neben Shokeri auf den Boden sinken und zog seinen Freund auf seinen Schoß. »Nein! O mein Bruder! Nein!«, schluchzte er. Die Arme um Shokeris Bauch geschlungen, spreizte er die Finger, um die Gedärme festzuhalten, die drohten aus dem aufgerissenen Körper zu gleiten. Er wiegte seinen Freund an seiner Brust und weinte: »O mein Bruder … mein Bruder …«
Kireko sank neben den beiden auf die Knie und versuchte, die Lebenskraft in Shokeris Augen zu bannen. Blut durchtränkte sein
Shuka,
verwandelte den trockenen Staub rings um ihn her in üppig roten Schlamm.
Kireko erkannte, dass sein Bruder sterben würde, und es traf ihn so schwer wie der Sprung des angreifenden Löwen. Er hatte sich noch nie so machtlos gefühlt – so nutzlos in einer Krise. Er hielt Shokeris Kopf in seinen Händen, flehte ihn an, wollte ihn zwingen zu leben, aber er spürte, wie sein Freund schauderte, wie die Spannung seines zuckenden Körpers nachließ. Dann regte sich Shokeri nicht mehr.
Als Kireko sah, wie das Feuer in den Augen seines Bruders erlosch, erfüllte sein Schrei des Zorns und der Verzweiflung das Tal.
Noah hatte Shokeri noch nicht losgelassen, sondern klammerte sich weiter an ihn und wiegte sich weinend hin und her. Kireko packte Noah mit einer blutigen Hand an der Schulter. Noah wandte ihm sein tränenfeuchtes Gesicht zu. Als schließlich Worte aus seiner zugeschnürten Kehle drangen, war es ein angestrengtes, halb ersticktes Flüstern: »Ich konnte ihn nicht retten, Kireko«, sagte er. »Ich konnte nicht tun, was getan werden musste. Es war zu viel.«
Kireko wusste, dass Noah Recht hatte. Er hätte nicht mehr tun können, als was er getan hatte, eines nach dem anderen. Er führte sich die Ereignisse, die zu der Tragödie geführt hatten, noch einmal vor Augen, versuchte, den Fehler in der Strategie zu finden. Der Ablenkungsplan hatte bei vielen Löwenjagden Erfolg gehabt. Der Onkel seines Großvaters, Marefu, hatte das gleiche Manöver auf der Ebene von Laikipia durchgeführt, um sein
Olawaru
zu erhalten und damit die Hand seiner Liebsten, als er es stolz bei seiner
Eunoto-
Zeremonie trug. Und Kireko hatte einen Vetter, der dieses Ablenkungsmanöver ebenfalls
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