Die Tränen der Massai
die Geier noch kreisten. Die stets geduldigen Schakale, deren Köpfe aufmerksam hin und her zuckten, waren an die Seitenlinien verdrängt. Die Hyänen, schlecht gelaunt wie immer, stritten sich miteinander um den Vorrang beim Festessen. Ein Löwe sprang hinter einem Felsen hervor, und die gackernden Hyänen flohen in alle Richtungen. Die drei
Moran
nickten einander zu, erfreut über diesen unerwarteten Glücksfall.
Shokeri sagte:
»Ngai
hat dir ein Geschenk gemacht, Kireko. Für dein
Eunoto.
Kein glorreicher Überfall, aber vielleicht eine glorreiche Jagd.«
Sie warteten zehn Minuten. Kireko flüsterte: »Ja, er ist ein einsamer Junggeselle. Jung, aber mit genug Mähne für ein schönes
Olawaru.«
Sie entwickelten einen Plan. Kireko würden den Kamm umgehen und sich dem Löwen von der windabgewandten Seite nähern. Noah und Shokeri würden den Löwen von der anderen Seite her ablenken und Kireko erlauben, mit dem Speer anzugreifen. Sie kletterten über zerklüftete Felsen, die von dem ewigen Kreislauf von Äquatorsonne und kalten Nächten geborsten waren, den Hügel hinunter.
Dann trennten sie sich. Kireko folgte dem Kamm und schlich vorbei an Gebüsch und Felsen auf die andere Seite. Als er dem Löwen nahe genug war, bewegten sich Shokeri und Noah ebenfalls vorwärts, etwa in dreißig Schritt Abstand.
Der Löwe wurde von den fünf Hyänen von allen Seiten bedrängt. Er hatte noch nicht das Selbstvertrauen eines ausgewachsenen Tieres und zeigte das, indem er sich aufgeregt das Maul leckte, als die Hyänen näher kamen. Hin und wieder sprang er kurz auf die eine oder andere zu. Sie heulten und rannten davon, wobei die Hinterteile den reißenden Klauen nur um Haaresbreite entgingen.
Kireko hatte hinter einem kleinen Busch gute Deckung gefunden. Er bemerkte zufrieden, wie aufgeregt der Löwe war. Die Vorzeichen waren gut. Wenn die Hyänen den Löwen ein paar Minuten länger ablenkten, würden Shokeri und Noah an Ort und Stelle sein. Kireko wartete geduldig und schloss alle Gedanken außer denen an den Löwen aus. Die Hitze der Sonne, die schwatzenden Bülbüls und die zirpenden Schnäpper, Schwalben, die hin und her schossen und das ununterbrochene Summen der Fliegen – das alles war verschwunden. Der junge Krieger wollte tief in die gelbgrünen Augen des Löwen schauen, um zu wissen, was der Löwe wusste, zu sehen, was er sehen konnte. Er wollte das Leben seines Löwen besitzen, bevor er es ihm nahm.
Er erinnerte sich an die toten Augen des Löwen, den sein Vetter vor vielen Jahren erlegt hatte. Sie waren voller Hass oder vielleicht Empörung über die Würdelosigkeit gewesen, von einem Menschen getötet zu werden. Kireko konnte das Tier tot, wirklich tot, im Schlamm neben dem Wasserloch liegen sehen, einen abgebrochenen Speerschaft in den Rippen. Fliegen hatten auf den erstarrten eisgrünen Augen gesessen. Kireko hatte sie verscheucht und sich von den Altersgenossen seines Vetters ein verächtliches Lachen eingehandelt. Aber dieser Löwe hier gehörte ihm, und er war wild und ausgesprochen lebendig.
Kireko wusste, dass einer von ihnen – Mann oder Löwe – bald tot sein würde. Er bereitete sich vor, ließ vorsichtig den acht Fuß langen Speer ins Gras neben sich sinken. Seinen Schild hielt er mit der linken Hand. Er war bereit. Es würde perfekt sein. Die schöne braune Mähne des Löwen würde einen wunderschönen
Olawaru-
Kopfschmuck abgeben, den die Mädchen beim
Eunoto
mit einem neuen Lied ehren würden.
Aber Kireko schob auch solche Gedanken weg und zwang seinen Geist in das Hirn dieses –
seines –
Löwen. Er verstand die Aggression des Tieres, spürte sie in seiner Brust aufsteigen, als wäre es seine eigene. Seine Muskeln zuckten mit jedem Schlag der Pfote nach den Hyänen. Sein Herz raste in beinahe unerträglicher Frustration. Die Dreistigkeit der Hyänen! Wie sie ihn erzürnte!
Kireko spürte eine Bewegung auf dem hohen Felssims auf der anderen Seite der Lichtung. Es war nur ein Schwanzzucken, aber er hatte es aus dem Augenwinkel wahrgenommen. Einen Augenblick später huschte die Löwin geduckt über das Sims, den Blick auf Shokeri gerichtet, der keine zwanzig Schritte von ihr entfernt war. Auch Noah hatte sie noch nicht bemerkt; er hatte den Blick auf den männlichen Löwen am Kadaver gerichtet. Kireko wusste, dass die beiden die Löwin, die die Sonne im Rücken hatte, erst sehen würden, wenn es zu spät war.
Er sprang mit erhobenem Speer aus dem Versteck. »Neeeein!«, brüllte
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