Die Tränen der Massai
hatte versucht, ein Gespräch über angenehmere Themen zu führen – über alles Mögliche, nur nicht über Ziada. Aber schließlich gab sie nach, denn es schien klüger, ganz offen zu sein.
»Das große goldene Wasser kommt nach all den Jahren wieder in meine Träume. Ich habe es zum letzten Mal gesehen, als du ein Kind warst. Als du mit deiner armen Mama geflohen bist.« Ihre Stimme verklang.
Malaika tätschelte die Hand der Alten. »Es ist der Viktoriasee, Kokoo. Und ich habe dir gesagt, Mama und Ziada sind immer noch dort. Mit Hamis. Sie sind glücklich.«
»Aber ich kann nicht zu diesem Viktoriasee gehen, um deine Schwester zu suchen. Ich sehe, dass sie leidet.«
»Sie leidet?«
»Ja, Kind. Es gibt dort Leid. Die Geister senden Botschaften. Was kann ich anderes tun, als ihnen zuzuhören? Eine alte Frau, die nutzlos ist und ihre Kraft verliert« Sie seufzte.
»Kokoo, du machst dir umsonst Sorgen. Es geht Ziada gut.«
»Hast du sie gesehen?«
»Nun, vor ein paar Jahren.« Malaika wollte nicht zugeben, dass sie nie zurückgekehrt war. »Nachdem die Grenze geschlossen wurde, wurde es schwierig. Und dann bin ich zur Schule gegangen, und, na ja …« Die alte Frau so täuschen zu müssen machte sie traurig. Wie bei vielem in ihrem Leben, das sie ändern wollte, hatte sie nie den Mut aufgebracht, nach Hause zurückzukehren. Sie hatte sich immer eingeredet, dass sie zu viel zu tun hatte. Aber im Nachhinein betrachtet hatte sie ihre Familie in Mwanza ebenso verdrängt wie die anderen Erinnerungen aus ihrer Vergangenheit. Sie wollte auch jetzt nicht darüber sprechen. »Bitte, Kokoo, mach dir keine Sorgen.«
»Malaika … Kind, sieh mich an.«
Naisua packte Malaikas Hände. »Ich bin alt. Diese Knochen sind alt. Sie brauchen ihren Frieden. Die Menschen in unserem Dorf fragen sich, warum ist diese Alte immer noch bei uns? Ich weiß, dass sie das denken, und warum auch nicht? Sieh mich an. Was kann dieser alte Körper noch tun? Kann ich allein an diesen Ort mit dem großen Wasser gehen? Nein.« Sie drückte Malaikas Hände und legte den Kopf schief. »Ich habe zu lange gelebt, Malaika. Und ich will sterben. Oh, du bist jung. Kannst du das verstehen? Es ist Zeit. Aber meine Seele kann keinen Frieden finden, bevor ich weiß, wie wir gegen diesen Fluch ankommen können.«
Malaika sah die Qual im Blick ihrer Urgroßmutter, aber was konnte sie tun, um sie davon zu überzeugen, dass alles, was sie unternahmen, sinnlos sein würde? Kokoo schien sie nicht zu verstehen. Ob es jemanden gab, der die Pflichten des
Laibon
übernahm oder nicht, die Epidemie würde weiter wüten. Ja, die Massai würden mehr darunter leiden als alle anderen. Und, ja, sie brauchten Hilfe. Aber das änderte letzten Endes nichts. Das kulturelle Erbe der Massai würde dafür sorgen, dass die Infektionsrate extrem hoch blieb.
»Oh, wenn ich dieses junge Mädchen nur sehen könnte – deine Ziada. Irgendwie weiß sie die Antwort. Sie hat den Schlüssel, um Sendeyos schrecklichen Fluch zu brechen. Ich
muss
sie finden.«
»Ich bringe sie zu dir, Kokoo.« Wenn etwas so Einfaches ihrer Urgroßmutter Frieden bringen würde, konnte Malaika es zumindest anbieten.
Die alte Frau hob beide Hände an die Lippen. »Aber es wird schwierig sein. Sie ist weit weg. Und das große goldene Wasser umgibt sie. Ich sehe einen kleinen Ort zwischen den hohen Felsen. Viele Menschen. Es ist ein sehr unglücklicher Ort. Ein böser Ort.«
Malaika musste an das kleine Haus ihrer Mutter in Mwanza mit seinem Gemüsegarten denken, das zwischen all diesen kleinen Hütten identischer Häuser stand. Man konnte es sicher nicht als eine böse Insel in einem goldenen See bezeichnen. »Ich werde sie herbringen, Kokoo.« Sie war froh, etwas gefunden zu haben, das die verängstigte alte Frau ein wenig beruhigte.
Kokoos Augen glitzerten. Malaika nickte. »Ich verspreche es dir.«
»Sieh dir das an, Onditi!« Das war Mengoru, der ins Dorf gekommen war. »Eine wiedervereinigte Familie!«
Die Stimme ihres Vaters erschreckte sie nach all diesen Jahren immer noch. Sie warf gegen ihren Willen einen Blick über die Schulter, obwohl sie sich vorgenommen hatte, in seiner Gegenwart keine Schwäche zu zeigen. James Onditi! Rasch drehte sie sich wieder um. Was hatte
er
hier zu suchen? Mit ihrem Vater? In ihrem Dorf! Er kannte Mengoru offenbar gut, und inzwischen wusste er vermutlich auch alles über sie.
Sein Blick ruhte auf ihr, und sie war sicher, dass es ihm gefiel, sie so gedemütigt zu
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