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Die Tränen der Massai

Die Tränen der Massai

Titel: Die Tränen der Massai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Coates
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Stunde entfernt. Naisua eilte weiter, während Impalas und Gazellen auf der Flucht vor dem Schwarm an ihr vorbeisprangen.
    Sie warf ein Ende ihres Gewands über den Arm, um sich vor dem Staub und den fliegenden Insekten zu schützen. Sie konnte nur noch ein paar Schritte weit sehen. Eine Gazelle sprang ihr in den Weg und schlug im letzten Augenblick einen Haken. Dann raste der Rest der Herde vorbei.
    Naisua suchte nach einem sicheren Versteck. Die Gazelle hatte sie erschreckt, und sie wusste aus Erfahrung, dass die größeren Tiere bald folgen würden.
    Das Donnern der Wildstampede wurde lauter. Drei Giraffen galoppierten mit anmutigen, langsam wirkenden Schritten vorbei. Eine kleine Zebraherde stürzte Hals über Kopf durch die Staubwolke; ein halb erwachsenes Fohlen streifte Naisua mit dem Huf. Sie fiel hin und kroch in den Schutz zweier großer Felsen, als ein Büffel aus dem Staub auftauchte und über sie hinwegsprang. Sie drückte sich an die Felsen, während die Herde vorbeidonnerte. Ein riesiges Tier – sie wusste nicht, was es war – stieß gegen die Steine über ihr.
    Als der Boden aufgehört hatte zu beben, verließ sie ihr Versteck. Staub legte sich auf eine Landschaft, in der es keine Spur von lebender Vegetation mehr gab. Aasfresser hatten sich bereits um eine Anzahl von Tieren gesammelt, die entweder tot oder tödlich verletzt waren, und stritten sich. In der Nähe versuchte ein Gepard, eine ausgewachsene Antilope niederzureißen, deren gebrochenes Hinterbein nur noch von einem Fetzen Haut am Knie gehalten wurde.
    Naisua schauderte und eilte weiter nach Westen.
     
    Die Müdigkeit, die sie während der drei langen Tage ihrer Reise unterdrückt hatte, drohte Naisua zu überwältigen, als sie vor dem letzten Hügel stand. Dahinter befand sich das Dorf. Sie fürchtete, was sie dort finden würde.
    Ihre Unruhe wuchs, als sie sich dem Hügelkamm näherte. Keines der üblichen Dorfgeräusche war zu hören.
    Als sie den Kamm erreichte, hielt sie den Atem an. Über dem Dorf schwebte eine Atmosphäre wie ein ergrauter Geier, dessen Todesbauch fett geworden war von den Leben, die er geplündert hatte.
    Naisua hatte gewusst, dass es dort oben Tod gab, lange bevor sie den Kamm erreichte. Es war diese Stille, diese schreckliche Stille. Einen Dieb hatte sie sie genannt, als die Stille vor vielen Jahren zum ersten Mal auf dem Weg von Laikipia zu ihrem Stamm gekommen war. Und Naisua wusste, dass Stille ein herzloser Dieb war, wenn es um einen Massai
enkang
ging, denn sie prahlte mit dem, was sie gestohlen hatte. Das Lachen der Kinder und das Brüllen der Kälber, selbst das Muhen der Rinder und das hohle Klappern ihrer hölzernen Glocken, Geräusche, die einem für gewöhnlich nicht einmal mehr auffielen, ließen eine seltsame Leere zurück, wenn sie nicht da waren. Auch die Lieder der Mütter waren verschwunden und das Schwatzen der Alten. Wer konnte sich einen so kaltblütigen Dieb vorstellen? Wer konnte das Schweigen eines Dorfs ertragen, das vom Tod heimgesucht worden war?
    Naisua ging langsam durch die Überreste des
Boma
zu der Stelle, die einmal die Mitte des Dorfs gewesen war. Küchenutensilien lagen verstreut unter dem Schutt der Hütten, in denen sie sich befunden hatten. Ein paar Dorfbewohner suchten in den Trümmern nach diesem und jenem. Einige standen einfach nur erschüttert neben den zerschmetterten Leichen ihrer Lieben.
    Die Szene bestätigte zwei der drei Voraussagen in ihrer Traumvision. Der silberne Regen ihres Traums war der Heuschreckenschwarm. Der schwarze Wirbel war der Tod, den er gebracht hatte. Was war mit dem dritten Teil – dem verschwindenden Gesicht von Agnes? Sie wagte nicht, diese Vision zu deuten, bevor sie dazu gezwungen wurde.
    An der wichtigsten Stelle des Dorfs, dem Platz für die Hütte des
Laibon,
stand Seggi und stützte sich auf einen zerbrochenen Speer. Unmengen Fliegen umschwärmten einen Riss in seinem linken Oberschenkel; andere sammelten sich auf dem Staub und Dung, der die Schnitte an seinem Oberkörper und den Armen bedeckte. In seinen Augen lag nichts von dem stolzen
Morani,
dem Naisua vor vielen Jahren geholfen hatte, sich auf sein
Eunoto
vorzubereiten. Wieder wollte sie ihn in die Arme nehmen, ihn vor seiner schlimmsten Angst schützen. Ihm diesen Schmerz nehmen, wenn das möglich war.
    Mit schlimmen Vorahnungen betrat sie seine Hütte. In dem Teil, der der Schlafraum gewesen war, lag ein toter Gnubulle, aus dessen Rücken eine Speerspitze ragte. Der größte

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