Die Tränen der Massai
Papiere! Und alles ein riesiges Durcheinander.«
»Und?«
»Kein Glück.«
»Papiere, Papiere! Warum verschwenden Sie Ihre Zeit mit Papieren? Sie soll es Ihnen einfach sagen.«
»Sie ist zu vorsichtig. Sie lässt sich nicht so einfach zum Reden bringen.«
»Ich bin den ganzen Weg von Isuria gekommen, nur weil Sie mir sagen wollten, dass Sie nicht herausfinden konnten, wo dieses alberne Mädchen wohnt?«
»Es braucht eben Zeit«, sagte Onditi, verärgert über Mengorus Unterstellung, dass er es nicht mal mit einem Mädchen aufnehmen konnte. »Sie ist störrisch.«
»Ha! Störrisch, wie? In den alten Tagen brauchte man nur zum Haus eines Mannes zu gehen und fand all seine Frauen dort. Damals haben sie sich nicht rumgetrieben.«
»Nun, die Zeiten ändern sich. Einige machen jetzt, was sie wollen.«
»Haben wir uns etwa dafür die Unabhängigkeit erkämpft?« Mengoru spuckte auf den Boden. »Sie hätten dabei sein sollen, damals im Jahr 1952. Ich war noch ein junger Mann. Sehen wir mal. Ich war gerade erst sechsundzwanzig Jahre alt. Hm! Ihr Jungen kriegt alles umsonst, und wir mussten die ganze schwere Arbeit leisten. In den Dschungel gehen. Wir haben für die Freiheit gekämpft. Wir alle!«
Es kurzer Weg, gesäumt von Zuckerrohr und Pfeilwurz, zog sich zu einem Bogen miteinander verwobener Pandanus-Palmwedel, und dahinter gab es einen Esstisch, auf dem Bananenblätter ausgebreitet waren. Es hätte eine Gartenparty in einer wohlhabenden Vorstadt von Nairobi sein können. Eine kleine Gruppe von Männern hatte sich im flackernden gelben Licht von Öllampen auf Bambusstangen im Schatten einer lila Bougainvillea versammelt.
Aber 1952 gab es in Pumwani keinen Wohlstand, und der »Garten« war einfach nur eine vorübergehend geräumte Lichtung in den Müllhaufen neben einem einstmals kristallklaren Wasserlauf. Nun diente der Bach als Abfluss für die riesige Barackenstadt am Rand von Nairobi, und sein Gestank drang bis in die neuen Siedlungen rund um das sich weiter ausdehnende, verwahrloste Pumwani.
Fred Kubai, der untersetzte bärtige Sohn eines Kikuyubauern, trug ein langes weißes Gewand. Straußenfedern wippten an seinen Schultern, und sein Gesicht und das kurz geschnittene Haar waren mit der dicken roten Erde von Ostnairobi beschmiert.
Mengoru stand unter einem Ölbrenner, der schwarzen Rauch in die Nacht aufsteigen ließ, und trat von einem Fuß auf den anderen. Er war nackt, wenn man einmal von einem einzelnen Stück Ziegenfell absah, das kaum seine Scham bedeckte, und einer Girlande aus geflochtenem Gras um seinen Hals. Neun andere Männer auf der Lichtung waren ähnlich gekleidet.
Kubai hob den Blick seiner blutunterlaufenen Augen zum Vollmond und stieß die geballte Faust in die Luft. Er sprach im Flüsterton, aber sie konnten ihn alle hören.
»Wenn ihr jemals uneins mit eurer Nation werdet oder sie verratet, wird euch dieser Schwur den Tod bringen.
Wenn ein Angehöriger dieser Gesellschaft nachts zu euch kommt und ihr euch weigert, ihm die Tür zu öffnen, wird euch dieser Schwur den Tod bringen.
Wenn ihr je eine Kikuyufrau an einen Fremden verkauft, wird euch dieser Schwur den Tod bringen.
Wenn ihr je einen Angehörigen dieser Gesellschaft im Stich lasst, wird euch dieser Schwur den Tod bringen.
Wenn ihr je einen Angehörigen dieser Gesellschaft an die Regierung verratet, wird euch dieser Schwur den Tod bringen.«
Mengoru wusste, dass er hier etwas Verbotenes tat. Der Geheimgesellschaft der Mau-Mau die Treue zu schwören stellte laut den Notstandsgesetzen ein Verbrechen dar, und die Briten hatten ihrerseits geschworen, die Terroristen bis zum Tod zu bekämpfen. Mengorus Haut wurde klamm.
Kubai, ein Mitglied des Zentralkomitees der Mau-Mau, vollzog alle Zeremonien in Nairobi. Er war einer der Gründer der Geheimgesellschaft, aber vor allem kümmerte er sich um die Eide, weil er verstand, welche Macht ein Ritual haben konnte. Jede dieser Vorstellungen war sorgfältig geplant, jede dramatische Bewegung, jedes sorgfältig gewählte Wort war dazu gedacht, im Hirn der Eingeweihten das Zeichen der Mau-Mau zu hinterlassen, so wie ein glühendes Brandzeichen ein Rind kennzeichnete.
Eine Ziege, die an die Bougainvillea gebunden war, meckerte nervös, als Kubai auf sie zuging. Er packte sie an den Hörnern und zog den Kopf des Tieres über seinen Oberschenkel zurück, so dass die Kehle der Ziege entblößt war. Die Ziege trat noch einmal aus, als Kubais Klinge mit dem Geräusch eines Rasiermessers,
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