Die Tränen der Massai
und war offenbar imstande zu hören und zu verstehen, was sie sagten. Aber sie litt unter den entsetzlichen Erinnerungen, die ihr nicht nur die Sprache, sondern auch das Lächeln genommen hatten. Penina und Hamis beschlossen zu warten, ob die Zeit Malaika heilen konnte.
Hamis konnte kaum glauben, dass schon neun Monate vergangen waren. So viel war geschehen! Peninas Bauch war gewachsen und mit ihm ihre Unruhe. Nicht nur wegen Malaikas anhaltendem Schweigen, sondern auch, weil sie Angst hatte, das ungeborene Kind könnte Mengorus Kind und ein Mädchen sein. Hamis hielt nichts von dem Stammesaberglauben, aber er hatte offenbar keine Chance, Penina davon zu überzeugen, dass sie und ihre Kinder bei ihm in Sicherheit waren.
Der Schrei stieg über den Lärm der
Matatus
auf. Hamis stürmte quer durch den Garten und durch die Küche zur Schlafzimmertür. Der Schrei war verstummt. Penina lag vollkommen verschwitzt in dem stickigen Zimmer auf dem Bett. Die Hebamme wischte sie mit einem feuchten Tuch ab und warf Hamis einen Blick zu, der ihm mitteilte, dass sie seine Anwesenheit tolerieren würde, aber nicht für lange.
Penina öffnete die Augen, streckte eine Hand zu Hamis aus und winkte ihn zu sich. »Hamisi, ich habe Angst.«
Er griff nach der kalten, verschwitzten Hand. »Penina, es wird alles …«
»Nicht um mich. Aber was, wenn es ein Mädchen ist? Was könnte dir und Malaika alles zustoßen! Versprich mir, dass du dich um Malaika und um dieses neue Kind kümmern wirst, wenn mir etwas passiert.«
»Das werde ich, Liebste, das verspreche ich.«
Die nächste Wehe kam. Die Hebamme drängte sich ans Bett und schob Hamis weg.
Eine Stunde später legte ihm die Hebamme lächelnd das Baby in die Arme.
»M’sichana«,
sagte sie. »Ein Mädchen. Ihr Männer!« Sie schüttelte den Kopf. »Ihr erwartet immer Probleme!«
Er bildete eine schützende Höhle für das Baby, indem er ungeschickt die breiten Schultern und Arme nach vorn bog. Dieses Bündel, nicht dicker als sein Unterarm, hatte alle zehn braunen Finger, die sich bogen und wieder streckten, und ein lebhaftes, faltiges kleines Gesicht. Er lächelte Penina an, die versuchte zurückzulächeln. Das Baby in seinen Armen verzog das Gesicht und krauste aufgeregt die Nase. Hamis verstand nichts von dem Fluch, der angeblich auf Peninas Familie lag. Er war nicht einmal sicher, ob Penina es verstand, aber er kam zu dem Schluss, dass es ihm gleichgültig war, ob das hier sein oder Mengorus Baby war. Er liebte diese Kleine bereits; sie war ein Geschenk Gottes. Und genauso würden sie sie nennen: Gottesgeschenk, Ziada.
»Ziada«, sagte er leise, um auszuprobieren, wie es klang. Dann sagte er noch einmal: »Ziada.« Sehr zufrieden mit sich selbst schaute er Penina an. Dann bemerkte er Malaika an seinem Ellbogen. Auf ihrem Gesicht, das sie ihm und dem Kind in seinen Armen entgegenhob, lag das Leuchen der Neugier. Hamis ließ sich auf ein Knie nieder und zeigte ihr ihre neue Schwester. Malaika schaute das Baby ehrfürchtig an. Jede Einzelheit der winzigen Züge, ihre Finger, die Zehen, das dünne schwarze Haar wurde ausführlich betrachtet. Schließlich schien Malaika mit dem, was sie sah, zufrieden zu sein. Ihre Augen leuchteten, und ein kleines Lächeln zuckte um ihre Mundwinkel. »Ziada«, flüsterte sie.
1975
Malaika schlenderte am Bismarckfelsen vorbei. Der Viktoriasee war nie richtig blau; heute war er blaugrau, das Beste, was er zustande brachte. Sie hätte eigentlich an der Marktbude ihrer Eltern sein sollen, aber sie schob ihre nackten Füße in den Sand des Wegs zwischen der Straße und dem See und zog dabei die Schultasche hinter sich her, wie es Zehnjährige manchmal taten. Ihr Lehrer hatte sie wieder nachsitzen lassen, weil sie sich geprügelt hatte. Es war das vierte Mal in diesem Trimester. Es ist ungerecht, dachte sie. Warum soll ich drei Schläge mit der Rute bekommen und den Schulhof sauber machen, wenn es doch Faridah Pemba war, die damit angefangen hat? Das letzte Mal war es Sekela Macharia gewesen, und er war auch nicht bestraft worden. Es war ungerecht. Jetzt würde ihre Mutter böse sein. Sie und Hamis würden auf dem Markt nicht weitermachen können, weil Malaika zu spät kam, um die kleine Ziada nach Hause zu bringen. Hamis würde das nicht stören. Er wurde selten wütend. Aber er würde dastehen und die Hände ringen und sich Gedanken machen, bis Mama mit Schimpfen fertig war. Dann würde er erleichtert lächeln und später am Tag eine Ausrede
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