Die Tränen der Massai
finden, um Malaika zu sich zu rufen. Er hatte immer irgendetwas für sie, zum Beispiel ein seltsames Stück gedrehtes Metall, das man auseinander nehmen und wieder verdrehen konnte wie ein Puzzle. Und dann würde er fragen:
Wie sagt man?
Das war Hamis’ Vorstellung von elterlicher Anleitung: grundlegende gute Manieren. Und Malaika musste antworten:
Danke, Hamisi.
Sie nannte ihn nie Vater, obwohl er das in jeder Hinsicht war. Sie hätte ihn gerne Papa genannt, wie die zweijährige Ziada es tat, aber das Wort kam ihr nicht über die Lippen. Das war seltsam, denn sie erinnerte sich nicht an ihren wirklichen Vater und dachte selten an ihn, außer in Alpträumen, wo er die Maske eines Ungeheuers trug. Tatsächlich konnte sie sich nicht an ihr Leben vor Mwanza erinnern. Das war seltsam, aber es beunruhigte sie nicht.
Sie ging am New Mwanza Hotel vorbei. Die Gäste in der Bar im Garten waren laut wie immer. Dann überquerte sie die Straße und bog in die schmalere Gasse ein, die zu jenem Teil des Marktes führte, wo ihre Mutter und Hamis ihre Bude hatten. Es war eine Eisenwarenbude hinter dem Geflügelmarkt mit seinem Durcheinander aus Quaken und Krähen und wirbelnden Federn. Und unangenehmen Gerüchen.
Am ersten Geflügelstand hängte eine alte Frau gerade zwei lebende Vögel, deren Beine mit einer Schnur gebunden waren, an einen Tragstock. Die Vögel wandten Malaika die Köpfe zu und starrten sie empört an. Weiter hinten konnte sie Hamis sehen, der einen Kunden überragte, mit dem er sich offenbar über den Preis nicht einig werden konnte. Hamis schien eine längere Auseinandersetzung zu erwarten und zuckte die Achseln, die Hände in einer resignierten Geste erhoben. Malaikas Mutter, die Ziada in einer Tragschlinge auf der Hüfte trug, arrangierte die Perlenkissen und Schürzen, die sie zusätzlich zu Hamis’ Metallwerkzeugen und Kochtöpfen ebenfalls verkaufte. Als Penina ihre Tochter entdeckte, verzog sie zornig das Gesicht und kam hinter der Theke vor.
»Malaika!«, fauchte sie. »Wo bist du gewesen? Du bist schon wieder spät dran. Interessiert es dich überhaupt, welche Sorgen ich mir mache? Nun, interessiert es dich? Nein, kein bisschen! Und deine Schwester ist so müde.« Sie hob die Zweijährige aus der Schlinge und reichte sie Malaika. Ziada umklammerte ihre Schwester mit Fingern, die klebrig von überreifen Bananen waren. »Und jetzt beeil dich! Geh nach Hause,
upesi, upesi,
oder du bekommst meine Hand zu spüren.«
Malaika eilte die Nyeri Road entlang und mied dabei Orte, an denen die Kinder aus ihrer Schule vielleicht spielen würden. Näher an ihrem Haus, wo es keine Seitenstraßen mehr gab, hielt sie inne, um Ziada auf die andere Hüfte zu setzen und sich auf den Endspurt in die Sicherheit ihres Hauses vorzubereiten.
Zwei Jungen, die sie kannte, rollten einen Autoreifen durch die Straße und lenkten ihn mit Stöcken, die sie in die Felgen schoben. Sie ignorierten Malaika, als sie vorbeieilte. Malaika wurde an der Ecke ihrer Straße langsamer. Die Straße war leer. Sie schob sich Ziada höher auf die Hüfte und bog rasch um die Ecke, ohne allzu eilig zu wirken.
»Heh! Da ist sie!« Vier Jungen spielten auf einem unbebauten Grundstück nicht weit von der Ecke Fußball. Malaikas Haus war hundert Meter entfernt. Nicht laufen!, sagte sie sich, als die Jungen begannen, neben ihr herzuhüpfen. Sie waren in der Schule eine Klasse über ihr, aber Malaika war beinahe so groß wie sie.
»Hey, Massaimädchen«, sagte einer laut. »Zeig uns dein Ding.«
Sie umkreisten Malaika, aber sie ging weiter.
»Zeig uns das kleine Ding zwischen deinen Beinen!« Sie lachten alle.
»Wie hat der alte Massaimedizinmann es beschnitten? Mit einem Rasiermesser?«, fragte ein zweiter Junge.
»O nein!«, sagte ein anderer. »Sie ist eine Massai, es muss eine Axt gewesen sein!«
»Ich bin keine Massai«, sagte sie aufgebracht, wagte aber keinen Augenkontakt. »Ich bin keine Massai.« Sie biss sich auf die Lippe.
»Oh! Keine Massai. Seht sie nur an – nichts als Zähne und Beine, aber sie ist keine Massai! Haha!«
Malaika kämpfte sich weiter und bedauerte ihren Ausbruch. So etwas machte es immer noch schlimmer. Ziada klammerte sich an sie und begann vor Angst zu wimmern. Das Haus war jetzt in Sicht, und die Jungen strengten sich mehr an, eine Reaktion zu provozieren. Einer fuhr mit der Hand unter ihr Schulkleid und schaffte es, seine Finger zwischen ihre Oberschenkel zu schieben.
»Ich hab’s geschafft! Ich hab es
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