Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)
noch keinem etwas gesagt?«, fragte Angela und riss erstaunt die Augen auf.
»Nein, keinem.«
»Nicht einmal Mathias!«
»Warum hätte ich es ausgerechnet Mathias sagen sollen?«
»Weil…«
»Weil er mich liebt? Ich kann nichts dafür, Angela, dass ich nicht die gleichen Gefühle für ihn hege. Ich mag ihn sehr, vielleicht ist es auch mehr. Ja, es ist mehr als das, aber …«
»Aber Alessandro fasziniert dich, er überwältigt dich und nimmt dich mit in eine Welt, die Du ohne ihn nie kennengelernt hättest. Sag mir, wenn ich mich irre.«
»Nein, du hast schon recht.«
»Das kenne ich sehr gut«, fuhr Constance fort. »Männer, die
mir den Hof machen, haben oft die gleiche Wirkung auf mich wie die, die mich mit materiellen Dingen überhäufen. Ihre gesellschaftliche Stellung muss mich in ihren Bann ziehen.«
»Was meinst du eigentlich mit Männern?«
»Sag jetzt nicht, du hättest nicht begriffen, warum ich in Florenz so frei bin, Alix!«, antwortete Constance und lachte.
»Nein.«
Angela wusste nicht mehr, wo ihr der Kopf stand. Eben hatte Alix freudig verkündet, dass sie schwanger war, und nun erklärte Constance freimütig, dass sie sich mit Männern vergnügte, die ihr Geschenke machten. Lieber Himmel! Was für ein Unterschied zu dem tristen Dasein ihrer Mutter, für die ihre Mutterschaft so beschwerlich gewesen war, weil das Kind keinen Vater hatte, und die ihre Tochter nur großziehen konnte, indem sie sich für diese Entgleisung von geizigen und groben Kerlen kaufen ließ!
»Hast du etwa geglaubt, das Geld meiner Mutter und mein kleines Erbe aus der Bourgogne würden mir das luxuriöse Leben erlauben, das ich jetzt wieder in Florenz zu führen gedenke, Alix?«
Als ihre beiden Begleiterinnen sie nur sprachlos ansahen, fügte sie hinzu: »So ist es nun einmal. Ich bin eine der berühmtesten Kurtisanen von Florenz.«
»Wenn du dich dabei wohlfühlst, warum nicht!«, meinte Alix, nachdem sie sich von ihrer Überraschung erholt hatte, und sah nachdenklich aus dem Fenster. »Jacquous Tod hat mich schwer getroffen und sehr verändert. Wenn wir jetzt noch zusammen wären, Erfolge und Misserfolge teilen könnten, die gleichen Ängste durchleben und uns an dem gleichen Glück erfreuen könnten, wäre ich natürlich bei ihm geblieben und hätte mich nie in einen anderen Mann verliebt. Aber mein großer Traum wurde brutal zerstört, und nichts kann mir diesen Mann ersetzen«, seufzte sie. »Ich glaube, im tiefsten Inneren meiner Seele bin ich mit ihm
gestorben. Jetzt gibt es nur noch meine Arbeit, meine Reisen und die glücklichen Begegnungen, die das Leben für mich bereithält. Falls es Alessandro eines Tages nicht mehr geben sollte und Mathias mich dann noch immer begehrt, kann ich nicht ausschließen, dass ich mein Leben mit ihm fortführen werde.«
Sie nahm Constances Hand.
»Wie du siehst, sind unsere Hoffnungen und Ziele gar nicht so verschieden. Ich finde, du hast vollkommen recht, wenn du frei sein willst, Constance.«
»Aber was wird dann aus der Liebe?«, warf Angela ein.
»Die Liebe bleibt, sie nimmt nur eine andere Gestalt an«, versicherte ihr Alix. »Ich glaube, deine Liebe zu Julio wird so sein wie die zwischen Jacquou und mir – groß und stark und belebend wie ein kräftiger Wind, der alles Überflüssige aus dem Weg fegt.«
Angela war zu Tränen gerührt.
»Glaubst du wirklich, dass Julio mich liebt?«
»Julio hat es mir kurz vor unserer Abreise gestanden«, flüsterte sie ihr ins Ohr. »Er wartet nur, bis du zurück bist, um es dir selbst zu sagen.«
Da schloss Angela die Augen und träumte von ihrem Glück.
Die Fahrt über die Alpen gestaltete sich schwieriger, als Alix erwartet hatte, und obwohl Leo ein ausgezeichneter Kutscher war, traf er beim Überqueren der Pässe auf einige Schwierigkeiten. So musste er zum Beispiel die Pferde anders anspannen. Hector, der Araberhengst, der die steilen spanischen Wege kannte, kam zusammen mit dem alten Cäsar, den nichts aus der Ruhe brachte und der die Strecke schon einmal bewältigt hatte, auf die Talseite. Die weiße Cesarine und Jason, der sich vor der Tiefe fürchtete wie ein Fohlen ohne Mutter, wurden zur Felsseite hin eingespannt.
An jeder Kurve bremste Leo die Kutsche, und wenn die Pferde
steigen wollten, sprach er beruhigend auf sie ein. Auf seiner zweiten Fahrt über die Alpen kam Leo gut zurecht und machte nicht die gleichen Fehler wie beim ersten Mal. Inzwischen kannte er die gefährlichen und die erholsamen Strecken,
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