Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)
zurückkehren zu dürfen.
Sie konnte es kaum erwarten, wieder ihr eigenes Leben zu leben, unabhängig und frei, was ihr viel mehr zusagte als die engen Familienbande und die Nähe des ungeliebten Stiefvaters, Julien de La Trémoille, den ihre Mutter nach ihrer Geburt geheiratet hatte.
Constance war aus dem gleichen Holz geschnitzt wie Alix, obwohl diese nur in die Familie eingeheiratet hatte. Eines war den Damen Cassex gemein: ihr ausgeprägtes Bedürfnis nach Freiheit und der Wille, selbst über ihr Leben zu bestimmen!
Dieser große Freiheitsdrang leitete sie, seit eine von ihnen, die Tochter eines Stickers aus London, mitten im Hundertjährigen Krieg England verließ und in Frankreich in einer Teppichweberei landete, in der damals die berühmte Apokalypse des heiligen Johannes entstand. Das war nun beinahe ein Jahrhundert her.
Als Constance Leo drei Wochen zuvor auf den Hof von Château de La Baume fahren sah, war sie zu ihm gestürzt und hatte ihm den Brief beinahe aus der Hand gerissen. Und wenn sie auch sofort
den Reisetermin akzeptiert hatte, den Alix vorschlug, so äußerte sie doch noch zwei Wünsche. Zum einen wollte sie François d’Angoulême sehen, um sich von ihm zu verabschieden, zum anderen, und das war viel schmerzlicher, einen Umweg nach Château Loches machen, um ein letztes Mal in der Nähe ihres Vaters zu sein, der dort in seiner tristen Zelle gefangen saß und nie erfahren würde, dass sie da gewesen war.
Alix hatte alles für die Zeit ihrer Abwesenheit geregelt und durfte unbesorgt aufbrechen. Sie konnte es kaum erwarten, Alessandro die freudige Nachricht zu überbringen, dass er wieder Vater wurde. In ein paar Tagen wollte sie Constance vielleicht anvertrauen, dass sie schwanger war. Aber noch wollte sie das Geheimnis für sich behalten und noch einmal in aller Ruhe darüber nachdenken. Denn eines war klar: Dieses Kind – egal ob Mädchen oder Junge – würde keinen rechtmäßigen Vater haben. Ehe sie Constance das alles erklärte, wollte sie lieber warten, bis ihre Kutsche die Alpen erreicht hatte und die italienische Grenze vor ihnen auftauchte.
20.
Bei der Fahrt durch Dijon war Alix wieder begeistert von der Schönheit dieser Stadt, aber Constance döste vor sich hin und hörte ihr nur mit halbem Ohr zu. Prächtige Kirchen, der Herzogspalast mit seinen Dächern und Kuppeln, den Spitzfresken, den Ziseluren, seinen Wasserspeiern und der hohen goldenen Turmspitze zogen an ihnen vorüber.
Aber sie mussten zügig vorankommen, Lyon links liegen lassen, obwohl die Stadt genauso schön war wie Dijon, und die Straße über die Alpen nehmen, die steil und kurvenreich und schwer zu fahren war, obwohl es Frühling wurde und der Schnee auf den Straßen allmählich taute.
Bei jeder neuen Reise zügelte Alix ihr Temperament mehr und schärfte stattdessen ihren Geschäftssinn. Obwohl sie überglücklich war, Alessandro wiederzusehen und ihm von ihrer Schwangerschaft zu berichten, vergaß sie darüber doch nicht die wirtschaftlichen Vorteile dieser Reise kreuz und quer durch Italien. Denn auch wenn Louise sie vor den allgegenwärtigen Gefahren gewarnt hatte, wollte sie ihren Besuch keinesfalls nur auf Florenz beschränken.
Angela hingegen war ganz außer sich vor Freude. Endlich sollte sie Italien kennenlernen, die Heimat ihrer Mutter! Die Welt dieser Frau erleben, die ihr die Pest viel zu früh genommen hatte. Sie war so begeistert, dass sie sich immer wieder Alix in die Arme warf und ihr überschwänglich dankte, dass sie sie mitgenommen hatte.
Um diese überbordende Zärtlichkeit ein wenig zu mäßigen, beteuerte
Alix wiederholt, dass Angela auf dieser Reise schließlich auch arbeiten sollte, falls es Verständigungsschwierigkeiten mit möglichen Florentiner Geschäftspartnern gab, mit denen sie Aufträge verhandeln musste.
Constance war sehr gesprächig und versprach immer wieder, ihnen alle Sehenswürdigkeiten von Florenz zu zeigen. Alix wusste aber, dass Alessandro sie mit ihr besichtigen würde. Und da verkündete sie plötzlich, ohne lange zu überlegen:
»Ich bin schwanger.«
»Was!«, riefen beide wie aus einem Munde.
»Von wem?«, wollte Constance sofort wissen.
»Natürlich von Alessandro!«, antwortete Angela an Stelle von Alix, die angesichts ihrer Überraschung lächeln musste.
»Dann wolltest du die Reise deshalb nicht länger aufschieben?«, fragte ihre Cousine mit einem Blick auf den Bauch von Alix. »In welchem Monat bist du denn?«
»Im dritten.«
»Und da habt Ihr
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